Sehr geehrte Damen und Herren,
am Dienstag, den 27. November 2001, jährt sich der 40. Jahrestag der Rücknahme von Contergan und anderer thalidomidhaltiger Präparate aus den Handel. Wir wollen dieses Datum zum Anlaß nehmen, einmal mehr das rücksichtslose Vorgehen der Herstellerfirma Grünenthal GmbH in Stolberg bei Aachen zu dokumentieren. Allen Falschmeldungen über die damaligen Ereignisse zum Trotz wollen wir einfach einige Auszüge aus der Anklageschrift der Oberstaatsanwaltschaft des Landgerichts Aachen (Aktz. 4 Js 987/61) vom 10. März 1967 sprechen lassen:
»1955 bis 1957 wurde – unter Leitung des Angeschuldigten Dr. Mückter – bei der Firma Chemie Grünenthal GmbH. in Stolberg N-Phthalyglutaminsäure-imid entwickelt. Diese neue Substanz erhielt die Bezeichnung Thalidomid und bildete die Grundlage des ab 1. Oktober 1957 in den Handel gebrachten Schlaf- und Beruhigungsmittels Contergan. Sie wurde ferner den Präparaten Grippex und Algosediv beigefügt. Im Ausland erfolgte der Verkauf entweder im Rahmen des Exportgeschäfts oder aufgrund von Lizenzen, die das Stolberger Werk an ausländische Firmen vergab.
Die Chemie Grünenthal deklarierte thalidomidhaltige Präparate als allgemein ungefährlich und zwar auch für die Gynäkologie, ohne die Einnahme während der Schwangerschaft auszuschlieβen. Verschiedentlich wurde die Gravidität in Werbeaussagen über die „besonders gute Verträglichkeit“ sogar ausdrücklich erwähnt. Eine Prüfung, ob Thalidomid die Schwangere oder die Leibesfrucht beeinträchtigen könne, war weder vor der Ausbietung erfolgt, noch wurde sie während der Jahre des Vertriebs durchgeführt.
Infolge seiner günstigen schlafmachenden Wirkung erwies sich Contergan in verhältnismäβig kurzer Zeit als äuβerst erfolgreiches Präparat. Dementsprechend nahm die Umsatzkurve einen steilen Anstieg. Contergan überflügelte schlieβlich alle bis dahin gängigen Schlaf- und Beruhigungsmittel.
Auβer Mitteilungen über Nebenwirkungen anderer Art gingen der Chemie Grünenthal vom Jahre 1959 an in ständig zunehmenden Maβe Meldungen über Nervenschäden in Form von Polyneuritiden und Paraesthesien zu. Sie waren nach meist langfristiger Contergan-Medikamentation – die allerdings von dem Unternehmen selbst empfohlen worden war – beobachtet worden. Das Herstellerwerk verstand es, das Bekanntwerden dieser Nebenwirkungen in der Öffentlichkeit zu unterdrücken und auf solche Weise den Umsatz zu steigern. Nachdem trotz dieser Bemühungen im Laufe des Jahres 1961 die schädliche Wirkung des Thalidomid einem gröβeren Kreis der Ärzteschaft bekannt geworden war, bagatellisierte die Chemie Grünenthal diese Wirkungen, so daβ der allgemeine Umfang der Schäden dennoch weithin unbekannt blieb. Obwohl Contergan wegen des Umfangs der Nervenschäden, darüberhinaus aber auch wegen einer Vielzahl von Meldungen über andere Gesundheitsstörungen, die ebenfalls von Ärzten mit Thalidomid in Zusammenhag gebracht wurden, spätestens ab März 1961 schlechthin nicht mehr als zuverlässig anzusehen war, deklarierte das Stolberger Unternehmen das Präparat nach wie vor auch als geeignet zur Einnahme bei Schwangerschaftsbeschwerden. Tatsächlich jedoch besaβ Contergan starke fruchtschädigende Eigenschaften. Tausende Kinder, deren Mütter während der Frühschwangerschaft das Präparat eingenommen hatten, kamen deswegen mit schwersten Miβbildungen zur Welt. Viele, nämlich die wegen ihrer Miβbildungen lebensunfähigen Kinder, sind zwischenzeitlich verstorben. Die durch Thalidomid verursachten Schäden hätten gröβtenteils vermieden werden können, wenn die Angeschuldigten die durch Prüfungen nicht gedeckte Propagierung unterlassen, wenn sie die aus der späteren Unzuverlässigkeit des Präparates sich ergebenden notwendigen Konsequenzen gezogen und schlieβlich die auch insoweit warnenden Stimmen von dritter Seite beachtet hätten.
Die durch thalidomidhaltige Präparate verursachten, teils irreversiblen Nervenschäden standen in keinem vertretbaren Verhältnis zum Wert der Substanz. Daβ das in viel stärkerem Maβe für die Fruchtschäden gilt, bedarf keiner näheren Begründung.
Daβ Thalidomid unvertretbare Nerven- sowie möglicherweise auch noch andere Schädigungen verursachen würde, hätten die Angeschuldigten bei Anwendung der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt voraussehen können, wenn auch aufgrund ihrer unterschiedlichen Vorbildung und ihres jeweiligen speziellen Wissens um die konkreten Geschehnisse von verschiedenen Zeitpunkten ab. Für niemanden von ihnen hat – ebenfall unter Berücksichtigung der damaligen konkreten Gegebenheiten – eine eventuelle Schädigungen Schwangerer und eine damit verbundene negative Beeinflussung der Embryonalentwicklung auβerhalb vernünftiger und zumutbarer Überlegungen gelegen.
Ab Frühjahr/Sommer 1961 betrieben alle Angeschuldigten den Verkauf des Thalidomid sogar mit dem Bewuβtsein, daβ es dadurch zu weiteren Schädigungen des Nervensystems bei weiteren Verbrauchern kommen werde. Aus Prestige-Gründen und um die Firma vor gröβeren finanziellen Rückschlägen zu bewahren, die jede einschneidende Maβnahme hinsichtlich ihres wirtschaftlich erfolgreichsten Präparates gehabt hätte, lieβen sie es dabei bewenden, aufgrund verschiedener Bemühungen Klarheit darüber zu gewinnen, wieso Contergan Schäden hervorrufe. Indem sie sich mit der Hoffnung begnügten, nach – zeitlich nicht absehbarer – Klärung unvertretbare Nebenwirkungen ausschalten zu können, fanden sie sich damit ab, die unerwünschten Schädigungen und Gefahren bis dahin nicht vermeiden zu können.
Weder die Warnungen anerkannter Wissenschaftler und Chefs bedeutender Kliniken wegen der von diesen diagnostizierten Nebenwirkungen noch die bei der Chemie Grünenthal immer offenkundiger gewordene Tatsache der Unüberschaubarkeit der mit der Einnahme von Contergan verbundenen Gefahren noch der im November 1961 in Stolberg bekanntgewordene begründete Verdacht eines deutschen und eines australischen Oberarztes, die – unabhängig voneinander – Thalidomid mit schweren Miβbildungen Neugeborener in Zusammenhang brachten, bewogen die Angeschuldigten zu einer Rücknahme der Substanz aus dem Handel. Hierzu sahen sie sich erst veranlaβt, nachdem durch einen Zeitungsartikel vom 25. November 1961 einer breiteren Öffentlichkeit die schwerwiegenden Beschuldigungen bekannt geworden und dadurch nicht mehr zu verheimlichen waren.« („Zusammenfassenden Darstellung“ des Sachverhalts; S. 10 – 12 der Anklageschrift, Unterstreichungen u. Ergänzungen durch Verfasser dieses Schriftsatzes)
Und noch ein kurzer Blick auf die Ereignisse um den 27.November 1961:
Am 24. November 1961 fand im Innenministerium des Landes NRW in Düsseldorf eine weitere von vielen Besprechungen statt. Die Grünenthalvertreter widersetzten sich trotz mehrfacher Aufforderung durch die anwesenden Ministerialbeamten auch hier, Contergan unverzüglich aus dem Handel zu ziehen:
»Ministerialrat Dr. Karl wies die anwesenden Grünenthal-Vertreter mit Nachdruck auf die Schwere und Tragweite des von Dr. Lenz geäuβerten Verdachts hin. Auch er versuchte, sie zu einer unverzüglichen Rücknahme des Contergan aus dem Handel zu bewegen. Der Angeschuldigte Dr. Dr. von Schrader-Beielstein lehnte das nach wie vor ab.« (Seite 414 der Anklageschrift; Dr. Lenz stellte den Zusammenhang zwischen der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate und den Mißbildungen her)
Und weiter wird berichtet:
»Die sich über den ganzen Tag hinziehenden Verhandlungen wurden mit auβerordentlicher Verbissenheit geführt. Sie zeichneten sich insbesondere dadurch aus, daβ seitens des Innenministeriums mit Nachdruck die Rücknahme von Contergan aus dem Handel gefordert wurde, daβ die Chemie Grünenthal ein derartiges Vorgehen ablehnte und – für den Fall eines Verbotes – mit Schadensersatzansprüchen drohte. Mehrmalige telefonische Rückfragen Dr. von Veltheims und Dr. Dr. Schrader-Beielsteins in Stolberg (mit Wirtz, Dr. Mückter, Chauvistré und einem beauftregten Rechtsanwalt) ergaben lediglich die Bereitschaft des Unternehmens, Contergan-Packungen ab sofort mit einem besonderen Klebezettel zu versehen: „An Schwangere nicht zu verabreichen.“ Obwohl Ministerialdirigent Dr. Studt darauf hinwies, eine derartige Warnung reiche nicht aus, zeigte sich die Chemie Grünenthal zu keinem weiteren Entgegenkommen bereit. Dr.Dr. von Schrader-Beielstein und Dr. von Veltheim erklärten abschlieβend, „der Verkauf nach dem Wochenende“ werde praktisch nur mit geänderter Packung erfolgen.« (Seiten 414 – 415 der Anklageschrift; Dr. von Veltheim = ein Rechtsanwalt von Grünenthal)
Sämtlichen weiteren Maβnahmen und Verzögerungsversuchen Grünenthals wurden jedoch durch den Artikel in der Zeitung „Welt am Sonntag“ vom 26. November 1961 unter dem Titel „Miβgeburten durch Tabletten? – Alarmierender Verdacht eines Arztes gegen ein weitverbreitetes Medikament“ ein Ende gesetzt. Erst nach Veröffentlichung dieses Artikels erklärte Grünenthal sich dazu bereit, Contergan am 27. November 1961 aus dem Handel zu ziehen. Zu der Zurücknahme der anderen thalidomidhaltigen Präparate bedurfte es noch „einer entsprechenden Aufforderung durch das Innenministerium NRW“. Dennoch schrieb Grünenthal am 27. November 1961 an die „Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft“:
»Wir haben uns „entschlossen, das Präparat Contergan sofort aus dem Handel zu ziehen, weil durch die Pressemitteilungen die Basis der wissenschaftlichen Diskussion verlassen wurde. …“« (Seite 417 der Anklageschrift)
Durch ihr rücksichtsloses Vorgehen verursachte Grünenthal vorgeburtliche Fehlbildungen bei weltweit etwa 8000 – 12000 Kindern, die so schwer waren, daß ein Großteil von ihnen ihre Körper-und Gesundheitsschäden nicht überlebten. Gleichzeitig erlitten tausende Verbraucher irreparable Nervenschäden.
Zur Zeit wird der Wirkstoff Thalidomid in 47 Ländern der Erde vertrieben. In Brasilien wird er insbesondere zur Dämpfung von Nebenwirkungen bei der Leprabehandlung eingesetzt – mit der Folge, daß seit den 70er Jahren zahlreiche geschädigte Kinder lebend oder tot geboren wurden und werden. Nach einer Nachrichtenmeldung vom 23.9.1997 um 12 Uhr im WDR 2 ist der Wirkstoff Thalidomid in den USA wieder auf dem Markt erhältlich. In verschiedenen europäischen Staaten wird er als „Wundermittel“ z.B. bei Folgeerkrankungen von AIDS, bei Krebs und Multiples Sklerose erprobt.
Auch wenn Thalidomid in Einzelfällen angeblich anschlägt und den betroffenen Patienten Linderung verschaffen soll, haben wir den Verdacht, daß es gegenwärtig mehr darum geht, eine allgemeine Akzeptanz für die offizielle Wiedereinführung von dem angeblichen “Wundermittel” Thalidomid zu schaffen. Das Wunderbare an diesem „Wundermittel“ ist nämlich sein niedriger Herstellungspreis.
Nach wie vor bestehen wir auf unser Recht, von Grünenthal gerecht entschädigt zu werden. Auch wenn die deutsche Justiz in ihren demütigenden Conterganurteilen uns dieses Recht stets absprach, bleibt dieses Recht bestehen. Daher wenden wir uns an die Öffentlichkeit. Das öffentliche Gewissen ist besser als das der Justiz. Auch appellieren wir nicht an das moralische und ethische Gewissen der Grünenthaleigentümer. Ihr Verhalten uns gegenüber war bisher gewissenlos. Es wird sich auch in Zukunft nicht ändern.
Wir fordern:
– Die Firma Chemie Grünenthal führt eine weltweite Informationskampagne mit dem Ziel durch, in den Entwicklungsländern über die Gefahren bei der Einnahme von Thalidomid aufzuklären und dem Mißbrauch vorzubeugen.
– Die generelle Wiedereinführung von Thalidomid in den Handel muß solange verhindern werden, bis der Nachweis einer positiven Wirkung bei bestimmten Indikationen erbracht wurde und eine Nutzen-Risiko-Abwägung im Vergleich mit anderen, insbesondere auch teureren Medikamenten einen eindeutigen Vorteil für Thalidomid ergibt. Bei einer erneuten Markteinführung von Thalidomid sind die dabei erzielten Gewinne von der jeweiligen Vertriebsfirma in dem Vertriebsland als Entschädigungsleistungen an die Thalidomidopfer abzuführen.
– Die Abgabe bzw. Einnahme in Einzelfällen erfolgt ähnlich wie bei den Methadon-Programmen nur unter ärztlicher Aufsicht.
– Die Firma Chemie Grünenthal bekennt sich zu ihrer Verantwortung und kommt für sämtliche Gesundheits- und Folgeschäden der Geschädigten in den Ländern auf, in denen sie Thalidomid selbst eingeführt, vertrieben, die Einführung mitinitiiert oder dessen Marktentnahme verhindert oder verzögert hat.
‒ Der Bundesverband Contergangeschädigter e.V. distanziert sich öffentlich von einigen seiner ehemaligen Funktionäre, die die Interessen der Contergangeschädigten zugunsten Grünenthals korrumpiert und verraten haben. Daß er in Zukunft die Interessen der Contergangeschädigten gegenüber Grünenthal vertritt, kann bei seinem bisherigen engen Zusammenspiel mit Grünenthal nicht erwartet werden.