Historie von 1955 – 1979

Die nebenstehenden Texte beruhen auf die folgenden Quellen:

Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Aachen vom 10.03.1967 (AK)

„Der dreifache Skandal-30 Jahre nach Contergan“, Eine Dokumentation“ von Gero Gemballa, Luchterhand Verlag 1993

„Die Entschädigung der Contergankinder, Abriß und Leitfaden für die Eltern der Contergan-Kinder und Kommentar und Materialsammlung zum Gesetz über die Errichtung einer Stiftung ‚Hilfswerk für behinderte Kinder’” von Regierungsdirektor Dr. Dietrich Böhm, 1973, in Siegen gedruckt und von Grünenthal finanziert. Dieses Buch wurde den Geschädigten vom Bundesverband als angebliche Contergangeschichte den Geschädigten stets übergebenen.

Unsere eigenen Archive

Vorgeschichte

1955 bis 1957 wurde – unter Leitung des Chemikers Dr. Heinrich Mückter – bei der Firma Chemie Grünenthal GmbH in Stolberg bei Aachen die Substanz N-Phthalyglutaminsäure-imid entwickelt. Diese neue Substanz erhielt die Bezeichnung Thalidomid und bildete die Grundlage des ab 1. Oktober 1957 in den Handel gebrachten Schlaf- und Beruhigungsmittels Contergan. Sie wurde ferner den Präparaten Grippex und Algosediv beigefügt. Im Ausland erfolgte der Verkauf entweder im Rahmen des Exportgeschäfts oder aufgrund von Lizenzen, die Grünenthal an ausländische Firmen vergab.

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Grünenthal deklarierte „Contergan“ als allgemein ungefährlich und zwar auch für die Gynäkologie, ohne die Einnahme während der Schwangerschaft auszuschließen (S.10 AK). Eine Prüfung, ob „Contergan“ die Schwangere oder die Leibesfrucht beeinträchtigt erfolgte nicht (S.10 AK). Als ein Gynäkologe seinen Patientinnen über einen kurzen Zeitraum Thalidomid (Wirkstoff von Contergan) verabreichte, dabei allerdings schwangere Frauen ausdrücklich ausnahm, weil er besonders vorsichtig war, nahm Grünenthal die vom Arzt verfasste Untersuchung, kürzte sie und verschickte die so veränderte Fassung an über 40.000 Ärzte. In einem Begleitschreiben hierzu bewarb Grünenthal Contergan bei den Ärzten als ein Medikament, das während der Schwangerschaft und in der Stillzeit verabreicht werden könne und das weder Mutter noch Kind schädigt („Der dreifache Skandal“, S. 119/120).

Bereits in der Erprobungsphase 1955 hatten verschiedene Ärzte auf Nebenwirkungen hingewiesen (S. 50 AK). Einige äußerten sich uneingeschränkt negativ über Contergan und die auftretenden Nebenwirkungen wie z.B. Schwindelgefühl, Erbrechen und Kopfschmerzen. Zum Teil wurde die Erprobung sogar wegen absoluter Unverträglichkeit abgebrochen. („Der dreifache Skandal“, S.17). Auf längere Erprobungsphasen wurde verzichtet, um mit dem Verkauf möglichst schnell beginnen zu können (S. 51 AK). Die Erprobung des neuen Wirkstoffs erfolgte nahezu ausschließlich an Nagetieren, nicht aber an mit Menschen näher verwandten Säugern. Die Versuchsprotokolle wurden – im Gegensatz zu den Gepflogenheiten der übrigen pharmazeutischen Industrie – spätestens im Jahre 1959 vernichtet (S.47 AK). Die von Grünenthal eingesetzten Prüfer besaßen weder eine spezielle Ausbildung für die Erprobung neuer Substanzen, noch verfügten sie über besondere praktische Erfahrung auf diesem Gebiet (AK S.48).

Trotz der fehlenden klinischen Erprobung und auch sonst äußerst dürftiger Datenlage und in vollständiger Unwissenheit über die Wirkungsweise von Thalidomid und über eventuelle Nebenwirkungen, wurde „Contergan“ ab 1957 aggressiv beworben. Die Anklageschrift listet seitenweise massive Propaganda der Herstellerfirma für „Contergan“, vor allem gegenüber niedergelassenen Ärzten und Kliniken auf, in der stets und ständig die hervorragende Verträglichkeit, die absolute Ungiftigkeit und die vollständige Freiheit von Nebenwirkungen betont wird (S. 55, 57, 58 AK). Ausdrücklich wird damit geworben, dass „Contergan“ in der Schwangerschaft und Stillzeit zu verabreichen sei und dass das Mittel weder Mutter noch Kind schädigt – eine Behauptung, die durch die für diese konkrete Werbung in Bezug genommene wissenschaftliche Arbeit ausdrücklich nicht belegt war (S. 64 AK).

Ab 1959 gingen bei Grünenthal in ständig zunehmendem Maße Meldungen über Nervenschäden ein. Die Anklageschrift schildert ab S. 74, dass der Düsseldorfer Neurologe Dr. Ralf Voss am 3. Oktober 1959 – nachdem bereits im Sommer drei ähnliche Verdachtsfälle gemeldet worden waren – die Firma Grünenthal auf einen von ihn diagnostizierten Fall von Polyneuritis(Nervenschädigung) hinweist und fragt, ob ähnliche Fälle nach Conterganeinnahme bekannt seien. Ab diesem Zeitpunkt listet die Anklage auf gut 400 Seiten eine nicht enden wollende Abfolge von Meldungen über schwere und schwerste Nervenschädigungen auf. Anfänglich vereinzelt, bald vermehrt und schließlich in den Jahren 1960/61 von Monat zu Monat bis in Tausende von Fällen ansteigend melden sich Klinikärzte, niedergelassene Ärzte, Apotheker und Geschädigte bei Grünenthal mit Hinweisen auf schwerste Nervenschädigungen nach Einnahme von Contergan. Diese werden von den behandelnden Ärzten in vielen Fällen als irreversibelbeschrieben. Wegen der Dauerhaftigkeit der Erkrankung kommt es regelmäßig auch zu psychischen Schäden. Hinzu kamen weitere Nebenwirkungen wie zum Beispiel schwere und quälende Verstopfungen, Benommenheit, Kopfschmerzen, Schwindelzustände, Trockenheit im Mund, Hauterscheinungen und Tremor (Schüttellähmungen) (vgl. z.B. S. 83 AK). Die beobachteten Nebenwirkungen lassen behandelnde Ärzte von dem Präparat als „Teufelszeug“ und „scheußliches Mittel“ sprechen (S.83 AK). Trotzdem verstand es Grünenthal, das Bekanntwerden der Nebenwirkungen in der Öffentlichkeit zu unterdrücken und auf solche Weise den Umsatz weiter zu steigern (S.10 AK). Contergan wurde unvermindert aggressiv beworben (S.91 AK). Die Stolberger Zentrale unterrichtete den eigenen Außendienst über die Nebenwirkungen von Contergan nicht (S.78 AK).

Im April 1960 heißt es in einem internen Papier von Grünenthal:

„Contergan und Contergan Forte sind zwischenzeitlich zu der Hauptsäule unseres Geschäfts in der freien Praxis geworden…Leider erreichen uns jetzt in verstärktem Maße Berichte über Nebenwirkungen des Präparates sowie Mitteilungen, dass von Ärzten und Apothekern die Rezeptpflicht für diese Präparat gefordert wird. Von unserer Seite aus muss alles getan werden, um einer Rezeptpflicht auszuweichen, da bereits erhebliche Mengen des Umsatzes durch den Handverkauf zustande kommen“ (S. 82 AK).

Am 13. Mai 1960 heißt es in einem Schreiben eines leitenden Angestellten der Firma Grünenthal an den Leiter des Verkaufsbüros in Essen zur Verhinderung der Rezeptpflicht:

„Unseren Zuhörern gegenüber müssen wir immer wieder die nicht vorhandene Toxizität vor Augen führen… Vor allen Dingen in der freien Praxis müssen wir uns klar darüber sein, dass ein so rasches Anwachsen des Umsatzes bei einem Schlafmittel zu Bedenken bei Ärzten und Apothekern führen kann. Nicht alle aus diesen Abnehmerkreisen können ihre ethische Einstellung in ‚marktwirtschaftlichen Grenzen’ halten. (S. 82 AK).

Die Irreversibilität der Nervenschäden wurde auch an anderer Stelle bewusst verharmlost:

Am 2. November 1960 nahm Grünenthal einen zusätzlichen Vermerk in der Packungsbeilage auf, in dem die Nebenwirkungen bezüglich der Nervenschädigungen als „Überempfindlichkeitserscheinungen” bezeichnet wurden, die aber nach dem sofortigen Absetzen des Präparates wieder abklingen würden (S. 120 AK). Tatsächlich waren aber die Nervenschäden schwerwiegend und nicht heilbar.

Kritische Publikationen in der Fachpresse werden von Grünenthal hinausgezögert (S.114/115 AK). Ende 1960 schickte Grünenthal Mitarbeiter auf Dienstreise zu staatlichen Gesundheitsbehörden, um einem von dritter Seite befürchteten Rezeptpflichtunterstellungsantrag zuvorzukommen und für die Zurückweisung eines solchen Sorge zu tragen (S.145 AK).

Nachdem trotz dieser Bemühungen im Laufe des Jahres 1961 die schädigende Wirkung von Contergan einem größeren Kreis der Ärzteschaft bekannt wurde, bagatellisierte Grünenthal diese Wirkungen, so dass der allgemeine Umfang der Schäden dennoch weiterhin unbekannt blieb (S.11 AK).

Spätestens ab Frühjahr / Sommer 1961 betrieb Grünenthal den Verkauf von Contergan in dem Bewusstsein, dass es dadurch zur Schädigung des Nervensystems bei weiteren Verbrauchern kommen werde (S. 12 AK).

Obwohl Contergan wegen des Umfanges der Nervenschäden und Meldungen über andere Gesundheitsstörungen spätestens ab März 1961 schlechthin nicht mehr als zuverlässig anzusehen war, deklarierte Grünenthal Contergan nach wie vor auch als geeignet zur Einnahme bei Schwangerschaftsbeschwerden (S.11 AK).

Zu Beginn des Jahres 1961 sah sich Grünenthal erstmals Fragen nach diaplacentarem Übertritt von Contergan und damit im Ergebnis auch nach unmittelbaren Schädigungen des Fötus (Missbildungen) ausgesetzt (S. 196 AK). So hatte bereits in einem Schreiben vom 23.02.1961 – auf das Grünenthal erst am 23.03.1961 antwortet – die Firma The National Drug Company auf die Arbeit eines Dr. Stevensen hingewiesen, der die Frage nach einer möglichen Überwindung der Plazentaschranke durch Contergan aufgeworfen hatte (S.196 AK).

Im Verlauf des Monats März 1961 rechnete man bei Grünenthal erstmals ernsthaft mit einer gerichtlichen Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen durch einzelne Contergan-Geschädigte. Dies hatte eine stärkere Einschaltung der Rechtsabteilung zur Folge. Diese beauftragte einen Privatdetektiv mit der Überprüfung von einzelnen warnenden Ärzten, aber auch mit der Überprüfung von Geschädigten (S. 203 AK). Mit Wissen von Grünenthal verletzte dieser mit unlauteren Manipulationen die Privatsphäre einzelner Personen (S. 355 AK). Weiterhin schleuste er eine Mitarbeiterin, die vortäuschte, unter einer Contergan-Nervenschädigung zu leiden, in die Klinik eines kritischen Arztes ein (S.376 AK).

Auf den Seiten 298 – 299 der Anklageschrift wird weiter ausgeführt:

Speziell zur Frage des „Verschuldens“ legte die Rechtsabteilung den Angeschuldigten Wirtz, Chauvistré und Dr. Mückter und Leufgens am 10. Juli 1961 eine weitere 6seitige Notiz vor. In dieser hieß es u.a.:

„In jedem Fall müssen wir uns darüber klar sein, daß die Frage der Arbeiten über chronische Toxizität ein schwacher Punkt sein kann.“

„Rechtsanwalt v. Berchem … aber auch Rechtsanwalt Unger lieβ durchblicken, daß er noch erhebliches Material besitze, aus dem sich ein Verschulden Grünenthals ableiten lasse.“

Unsere „Argumentation … würde allerdings kaum genügen, zur Erklärung des Umstandes, daß wir keine Änderung des Beipackprospektes (bis zum September 1960) vorgenommen haben.“

„Es liegt auf der Hand, daß uns aufgrund der Unterlassung jeglicher Warnung im Beipackprospekt ein Mitverschulden trifft, wenn ein Patient in der Zeit von Mai bis September 1960 Contergan genommen hat und daraufhin eine Polyneuritis aufgetreten ist.“

Zur Änderung des Beipackprospektes im November 1960:

“ … hiergegen (würde) sicherlich eingewandt werden, daß diese Änderung auf dem Beipackprospekt – mit Rücksicht darauf, daß der Prospekt bei einem Patienten, der das Präparat schon lange gekauft hat, nicht mehr gelesen wird – auf der Packung hätte angekündigt werden müssen … Außerdem dürfte damit zu rechnen sein, daß sich medizinische Gutachter finden, die gegen den letzten Satz, wonach nach dem sofortigen Absetzen des Präparates die allergischen Reaktionen wieder abklingen, erhebliche Bedenken anmelden.“

„Der Beipackprospekt von April 1961 dürfte aber als ein Rückschritt zu werten sein, da die bisher unter dem Abschnitt ‚Zur Beachtung‘ aufgeführte Warnung von Nebenerscheinungen jetzt unter der großen Überschrift ‚Wirkungsweise und Verträglichkeit‘ gebracht wurde.

Spätestens nach dem Vortrag von Dr. Voß und dem Ärztekongreß in Wiesbaden hätte man klare Hinweise auf die immerhin von namhaften Ärzten vertretene Ansicht hinsichtlich der Polyneuritiden als Folgeerscheinungen längeren Contergan-Gebrauchs aufnehmen müssen. Insbesondere hätte man auch außen auf der Packung einen Hinweis auf die Änderung des Beipackprospektes bringen müssen.

Da die von uns nicht widerlegbare Möglichkeit der Polyneuritiden als Folgeerscheinung längeren Contergan-Gebrauchs bestand und wir zu dem Ursachenzusammenhang praktisch nicht viel beitragen konnten, hätten wir unverzüglich die Rezeptpflicht beantragen müssen.

Unverkennbar ist jedoch, daß das Prozeßrisiko in Hinsicht auf Verschulden heute für uns sehr viel größer ist als man zunächst annehmen konnte.

Unter diesen Umständen scheint es nicht vertretbar, einen Prozeß in dieser Angelegenheit zu führen. Zunächst würde durch den Beginn eines Prozesses bereits mit Sicherheit die Öffentlichkeit alarmiert werden. Dies muß man schon deshalb annehmen, weil das Gespräch der Ärzte über Contergan in ganz Deutschland offensichtlich sehr lebhaft ist.

Unter diesen Umständen wird empfohlen, keine Prozesse zu führen, sondern die einzelnen uns bisher bekannten Fälle nach entsprechender Untersuchung und Prüfung zu vergleichen.“

Um eine drohende gerichtliche Auseinandersetzung zu vermeiden, leistete die Chemie Grünenthal am 28. Juli 1961 erstmalig im Zusammenhang mit einem Schaden nach Contergan Schadensersatz.

Sie zahlte an den Pfarrer Dr. Kersten-Thiele aus Düsseldorf 750,- DM.

Andere Geschädigte, bei denen man eine Prozessbereitschaft nicht erwartete, vertröstete man; teilweise stritt man diesen gegenüber auch die schädlichen Wirkungen von Thalidomid ab oder stellte ein Verschulden in Abrede. Dieses Vorgehen hatte vorerst auch Erfolg. Die Beunruhigung in den Kreisen der Geschädigten wuchs jedoch ständig.

Wie prekär die Situation um Contergan auch im August 1961 von der Rechtsabteilung Grünenthals gesehen wurde, ergibt sich aus einer Notiz des Firmensyndikus Dr. von Veltheim vom 16. August 1961, die er über eine Besprechung am 14. August 1961 erstellte und die er den Angeklagten Wirtz, Chauvistré, Leufgens, Winandi, Dr. Werner, Dr. Sievers und Dr. Kelling vorgelegt hatte. In dieser teilweise wiedergegebenen Notiz heißt es:

„Von verschiedenen Herren wurde auf die außerordentlich große Gefahr hingewiesen, die uns durch eine Verzögerung der Rezeptpflicht in den vorgenannten 8 Ländern droht. Entgegen der Auffassung von Herrn Dr. Sievers ist nach dem in Deutschland geltenden Rechtszustand nur der Hersteller und nicht die Behörde, die über die Rezeptpflicht zu befinden hat, für ein Produkt verantwortlich. Wenn also die Rezeptpflicht für ein Produkt, das offensichtlich Gesundheitsschäden verursacht hat, aus irgendwelchen Gründen nicht verhängt wird, trifft den Hersteller die volle Verantwortung und die entsprechende Schadensersatzpflicht. Angesichts der Tatsache, daß wir unsere Arbeitshypothese von CONTERGAN als ‚Teilfaktor‘ bzw. als ‚auslösendes Agens‘ durch wissenschaftliche Arbeiten bisher immer noch nicht beweisen können, dürfte die Möglichkeit von leichten bis schweren Nervenschäden solcher Patienten, die CONTERGAN über einen mehr oder weniger längeren Zeitraum genommen haben, für ein Gericht – mit Rücksicht auf die 5 namhaften Autoren der veröffentlichten Arbeiten so gut wie unumstritten sein.

Wenn wir angesichts dieser Situation in den rezeptfreien Ländern die gleiche Werbung, die gleichen Rundschreiben an Ärzte und die gleichen Beipackprospekte mit den gleichen Packungen usw. benutzen wie in den rezeptpflichtigen Ländern, so wäre unser Verhalten gegenüber dem für eine Schädigung in Betracht kommenden Personenkreis sicherlich völlig ungenügend. Wir müssen uns darüber klar sein, daß man uns in einem derartigen Falle auch strafrechtlich den Vorwurf des Eventual-Dolus machen würde, der nach einer prägnanten Formel durch die Haltung

’na wenn schon‘

charakterisiert wird. Insoweit kann also nicht eindringlich genug gewarnt werden. Alle Personen in unserem Hause, die an einem solchen Verhalten (im obigen Sinne) mitwirken, kämen als Täter bzw. als Gehilfen bzw. als Begünstiger potentieller Körperverletzung (im strafrechtlichen Sinne) in Betracht.

Abschließend kann nur bedauert werden, daß alles erst zu dieser Situation kommen mußte. Wäre man den wiederholten – mündlichen und schriftlichen – Empfehlungen auf unverzügliche Durchsetzung der Rezeptpflicht und sachgerechte Änderung des Beipackprospektes gefolgt, würde man sich nicht einer so gefährlichen und für das Renomee unserer Firma unangenehmen Situation gegenübersehen.” (S. 337/338 AK)

Unter „dolus eventualis“ versteht man den bedingten Vorsatz. Mit bedingtem Vorsatz handelt, wer es für möglich hält, daβ er den Tatbestand verwirklicht, und diese Folge billigend in Kauf nimmt (z.B. der flüchtende Einbrecher versucht, die Verfolger durch Schüsse abzuschrecken, auf die Gefahr der Körperverletzung und Tötung hin).

Weder die Warnungen anerkannter Wissenschaftler und Chefs bedeutender Kliniken wegen der von diesen diagnostizierten Nebenwirkungen noch die bei Grünenthal immer offenkundiger gewordene Tatsache der Unüberschaubarkeit der mit der Einnahme von Contergan verbundenen Gefahren noch der im November 1961 bekannt gewordene begründete Verdacht eines deutschen (Dr. Lenz) und eines australischen Oberarztes, die unabhängig voneinander Contergan mit schweren Missbildungen Neugeborener in Zusammenhang brachten, bewogen Grünenthal zu einer Rücknahme von Contergan aus dem Handel (S.12 AK).

Am 15. November 1961 erhielt Grünenthal von den damaligen Privatdozenten Dr. med. Widukind Lenz in Hamburg – zu dieser Zeit Oberarzt der Universitäts-Kinderklinik, später dann ordentlicher Professor und Direktor des Instituts für Humangenetik der Universität Münster – einen Anruf. In diesem Gespräch teilte er dem Forschungsleiter Dr. Mückter mit, er habe aufgrund von Forschungsergebnisse den begründeten Verdacht, daß Contergan Mißbildungen verursachen würde und daß er eine sofortige Zurückziehung von Contergan aus dem Handel für erforderlich halte. Da er den Eindruck hatte, „daß seinem Verdacht nicht die notwendige Dringlichkeit beigemessen werde“, wiederholte er seine telefonischen Angaben und den Hergang des Gesprächs in einen noch sofort an Grünenthal abgesandten Einschreibebrief. Daraufhin erhielt er am nächsten Tag einen Anruf, in dem ein gemeinsames Gespräch für den 20. November 1961 in Hamburg verabredet wurde. Über dieses Gespräch wird in der Anklageschrift zwischen den Seiten 406 – 417 berichtet:

„Am selben Tage suchten Dr. von Veltheim, Dr. Dr. von Schrader-Beielstein und Dr. Michael den Privatdozenten Dr. Lenz in Hamburg auf. Dieser hatte erwartet, daß ihm zuvor die genaue Uhrzeit des Besuches angezeigt werde. Er beabsichtigte nämlich wegen der Dringlichkeit und der Bedeutung des Sachverhalts die Zuziehung eines Zeugen. Da es ihm jetzt nicht gelang, einen solchen zu erreichen, beschränkte er sich darauf, den Besuchern Informationen über die Form der neuen Mißbildungen, den Zeitpunkt ihres Auftretens und ihre geographische Ausbreitung zu erläutern. Bereits nach kurzer Zeit gewann er den Eindruck, daß die Firmenangehörigen weniger an seinen Erkenntnissen, als vielmehr an den etwaigen Schwächen seiner Feststellungen interessiert waren. Die Grünenthal-Vertreter, insbesondere Dr. von Veltheim, deuteten dabei mehrmals an, unter Umständen werde die Firma auch juristisch auf ungerechtfertigte Angriffe reagieren. Wiederholt benutzten sie Ausdrücke wie „geschäftsschädigendes Verhalten“ und „Rufmord an einem Medikament“. Die Besprechung endete schlieβlich mit dem Vorschlag von Dr. Lenz, bei einer für denselben Nachmittagangesetzten Besprechung der Hamburger Gesundheitsbehörde erneut zusammenzutreffen. Diese war kurz zuvor angesetzt worden mit dem Ziele, Dr. Lenz Gelegenheit zu geben, seinen Verdacht gegen Contergan in Anwesenheit amtlicher Zeugen vorzutragen.” (Unterstreichungen und Klammern durch uns)

Im Verlaufe dieser Sitzung, an der auch hohe Beamte der Hamburger Gesundheitsbehörde teilnahmen, konnte Dr. Lenz seine Feststellungen in allen Einzelheiten darlegen und den Anwesenden Einblick in seine Unterlagen gewähren. Trotz der alarmierenden Befunde weigerte sich Grünenthal auch auf eine entsprechende Frage der Beamten der Gesundheitsbehörde hin strikt, Contergan aus dem Handel zu ziehen. Im Gegenteil:

„Die Beauftragten der Chemie Grünenthal zeigten zeitweise eine derartige Aggressivität, daß sich Regierungsdirektor Dr. Dr. von Borcke veranlaßt sah, seiner Verwunderung darüber Ausdruck zu verleihen, ‚in welcher Form die von den Firmenvertretern an Herrn Dr. Lenz gerichteten Fragen vorgebracht würden.’” (S. 411 AK)

Noch am selben Tage versandte Grünenthal einen unter dem 14. November 1961 datierten Rundbrief „An alle Ärzte“ in einer Auflage von 66.957 Stück, der u.a. folgenden Vermerk enthielt:

„‚Nach den verdienstvollen Beschreibungen neurologischer Nebenwirkungen im Deutschen Fachschrifttum und unseren einschlägigen Mitteilungen an alle Ärzte, dürften die relativ seltenen Nebenerscheinungen mit den Vorzügen, die dem Contergan innewohnen, mehr als aufgewogen sein.’”

Am 24. November 1961 fand im Innenministerium des Landes NRW in Düsseldorf eine weiteren Besprechung statt. Die Grünenthalvertreter widersetzten sich trotz mehrfacher Aufforderung durch die anwesenden Ministerialbeamten auch hier, Contergan unverzüglich aus dem Handel zu ziehen:

„Ministerialrat Dr. Karl wies die anwesenden Grünenthal-Vertreter mit Nachdruck auf die Schwere und Tragweite des von Dr. Lenz geäuβerten Verdachts hin. Auch er versuchte, sie zu einer unverzüglichen Rücknahme des Contergan aus dem Handel zu bewegen. Der Angeschuldigte Dr. Dr. von Schrader-Beielstein lehnte das nach wie vor ab.” (S. 414 AK)

Und weiter wird berichtet:

„Die sich über den ganzen Tag hinziehenden Verhandlungen wurden mit außerordentlicher Verbissenheit geführt. Sie zeichneten sich insbesondere dadurch aus, daß seitens des Innenministeriums mit Nachdruck die Rücknahme von Contergan aus dem Handel gefordert wurde, daß die Chemie Grünenthal ein derartiges Vorgehen ablehnte und – für den Fall eines Verbotes – mit Schadensersatzansprüchen drohte. Mehrmalige telefonische Rückfragen Dr. von Veltheims und Dr. Dr. Schrader-Beielsteins in Stolberg (mit Wirtz, Dr. Mückter, Chauvistré und einem beauftregten Rechtsanwalt) ergaben lediglich die Bereitschaft des Unternehmens, Contergan-Packungen ab sofort mit einem besonderen Klebezettel zu versehen:

‚An Schwangere nicht zu verabreichen.‘

Obwohl Ministerialdirigent Dr. Studt darauf hinwies, eine derartige Warnung reiche nicht aus, zeigte sich die Chemie Grünenthal zu keinem weiteren Entgegenkommen bereit. Dr.Dr. von Schrader-Beielstein und Dr. von Veltheim erklärten abschließend, ‚der Verkauf nach dem Wochenende‘ werde praktisch nur mit geänderter Packung erfolgen.” (S. 414-415 AK)

Sämtlichen weiteren Maßnahmen und Verzögerungsversuchen Grünenthals wurden jedoch durch den Artikel in der Zeitung „Welt am Sonntag“ vom 26. November 1961 unter dem Titel

Mißgeburten durch Tabletten ? – Alarmierender Verdacht eines Arztes gegen ein weitverbreitetes Medikament”

ein Ende gesetzt.

Erst nach Veröffentlichung dieses Artikels erklärte Grünenthal sich dazu bereit, Contergan am 27. November 1961 aus dem Handel zu ziehen. Zu der Zurücknahme der anderen thalidomidhaltigen Präparate bedurfte es noch „einer entsprechenden Aufforderung durch das Innenministerium NRW“.

Dennoch schrieb Grünenthal am 27. November 1961 an die „Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft”:

„Wir haben uns „entschlossen, das Präparat Contergan sofort aus dem Handel zu ziehen, weil durch die Pressemitteilungen die Basis der wissenschaftlichen Diskussion verlassen wurde. …’”

Gegenüber ausländischen Vertriebspartnern wies Grünenthal noch bis Mitte 1962 in Rundschreiben und in sonstiger Korrespondenz darauf hin, dass für die Zurückziehung von Contergan eigentlich kein Anlass bestanden hätte. So heißt es in einem Schreiben vom 23.01.1962 an Geschäftspartner in Brasilien:

„Wie wir Ihnen bereits mitteilten, lag der Grund für die Zurückziehung von Contergan aus dem Handel ausschließlich darin, dass aufgrund der von Dr. Lenz geäußerten Vermutung in Bezug auf die teratogene Eigenschaften des Contergans eine unerhörte Pressekampagne in Deutschland ausgelöst wurde. Tatsache ist jedenfalls, dass die erhobenen Anwürfe bisher in keiner Weise bewiesen sind…..“

Contergan wurde weltweit in 47 Staaten verkauft. Hierbei kontrollierte die Auslandsabteilung von Grünenthal die Entwürfe der Werbekampagnen ihrer ausländischen Partner. „Völlige Ungiftigkeit“ und „Gefahrlosigkeit“ waren hierbei die wichtigsten Werbeargumente. („Der dreifache Skandal“, S.20)

Durch ihr skrupelloses Vorgehen verursachte Grünenthal bei weltweit etwa 10.000 Kindern Mißbildungen an Armen und Beinen, Augen und Ohren, inneren Organen und Genitalien. In Deutschland waren es ca. 7.000 Fälle, die teilweise so schwer waren, daß ca. 4.000 von ihnen ihre Körper-und Gesundheitsschäden nicht überlebten. Zudem verursachte Grünenthal bei tausenden Menschen äußerst schmerzhafte und irreparable Nervenschäden(Thalidomidpolyneuritis).

Fälle von Missbildungen sind außerdem in folgenden Ländern bekannt geworden: Argentinien, Australien, Belgien, Brasilien, Dänemark, Frankreich, Ghana, Großbritannien, Israel, Italien, Japan, Kanada, Libanon, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Pakistan, Schweden, Schweiz, Spanien, Syrien und den USA.

Conterganstrafprozess

Am 18. Januar 1968 wurde das Hauptverfahren vor der Strafkammer des Landgerichts Aachen gegen die verantwortlichen Leiter und Angestellten Grünenthals eröffnet. Wegen des großen öffentlichen Interesses fand der Strafprozeß in den Casino-Betrieben der Grube Anna in Alsdorf bei Aachen statt.

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Angeklagt wegen vorsätzlicher bzw. fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässiger Tötung waren der damalige Grünenthaleigentümer Hermann Wirtz, der ehemalige wissenschaftliche Direktor und Diplom-Chemiker Dr. med. Heinrich Mückter, der ehemalige Geschäftsführer Jacob Chauvistré, der ehemalige kaufmännische Leiter Hermann Josef Leufgens, der ehemalige Prokurist und Vertriebsleiter Klaus Winandi, der ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiter, und frühere Abteilungsleiter Dr. med. Gotthold Erich Werner, der ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiter Dr. med. Günter Sievers, der ehemalige Arzt, früherer Abteilungsleiter Dr. med. Heinz Wolfgang Kelling und der ehemalige Prokurist Dr. rer. nat. und Dr. med. Hans Werner von Schrader-Beielstein.

Die Anklage vertrat der Oberstaatsanwalt Dr. Josef Havertz.

Die Nebenklage der Eltern wurde vertreten von Herrn Rechtsanwalt Dr. Dr. Rupert Schreiber und dem Rechtsanwalt Karl-Hermann Schulte-Hillen. Rechtsanwalt Dr. Dr. Rupert Schreiber war Privatdozent für Rechtswissenschaft an der Universität Köln. Rechtsanwalt Karl-Herrmann Schulte-Hillen war selbst Vater eines contergangeschädigten Kindes.

Durch ihre teuer bezahlte Lobby nahm Grünenthal Einfluß auf das Strafverfahren.

Die begleitend zum Strafverfahren berichtende Presse wurde massiv manipuliert, um der Öffentlichkeit die für die Grünenthal negativen Ergebnisse der Beweisaufnahme zu verheimlichen. So wurden für den Prozess akkreditierten Journalisten Weihnachtspäckchen ins Haus geschickt, ausgewählte Journalisten wurden zum Interview mit einem der Hauptangeklagten in Ausland eingeladen. Waren besondere Vorlieben der Journalisten bekannt wurde hierauf selbstverständlich Rücksicht genommen z.B. durch ausgedehnte Segelreisen. Auch besuchten die Mitarbeiter der Presseabteilung der Chemie Grünenthal regelmäßig die Redaktionen der berichtenden Zeitungen. („Der dreifache Skandal“, S. 119/120).

An Ärzte und Apotheker wurde regelmäßig die Publikation „Grünenthal informiert“ verschickt, in der über den Prozess einseitig aus Grünenthals Sicht berichtet wurde. Autor dieser Presseinformation war just ein Journalist, der gleichzeitig auch als freier Journalist für den Prozess akkreditiert war und in dieser Eigenschaft für zahlreiche eigentlich unabhängige Zeitungen berichtete. („Der dreifache Skandal“, S. 121).

Der ehemalige Justizminister des Landes NRW, Dr. jur. Dr. rer. pol. Joseph Neuberger (SPD), dessen Anwaltssozietät einen der Grünenthalverantwortlichen vertrat, wurde in seiner Eigenschaft als oberster Dienstherr der Staatsanwaltschaft während des Strafprozesses zugunsten Grünenthals tätig und nahm maßgeblich Einfluß auf das Verfahren.

Am 242. Verhandlungstag des Conterganstrafprozesses mußten die Vertreter der Nebenkläger gegen den beisitzenden Richter, dem Landgerichtsdirektor Melster, einen Befangenheitsantrag stellen, weil dieser bei einem heimlichen Gespräch mit einem Verteidiger der Grünenthalverantwortlichen gesehen wurde. Als sich auch die Staatsanwaltschaft außerstande sah, dem Ablehnungsantrag entgegenzutreten, erklärte sich der betreffende Richter selbst für befangen und schied so aus dem Verfahren aus.

Auch auf die Schöffen wurde massiv Einfluss genommen. Ein Schöffe ließ sich von Grünenthal Medikamente schenken. Ein anderer konnte sich darüber freuen, dass sein Enkelkind eine Lehrstelle gefunden hatte – bei Grünenthal („Der dreifache Skandal“, S. 125).

Mit der Benennung von immer neuen Experten und Gutachtern wurde das Verfahren künstlich in die Länge gezogen. Die Opfer wurden systematisch als Täter dargestellt. Hatten sie einen Abtreibungsversuch? Wie viele Medikamente nehmen sie? War das missgebildet zu Welt gekommene Kind ein Wunschkind? Gab es Erbkrankheiten in ihrer Familie? Wie viel Alkohol trinken sie? Rauchen sie? Wie lange sitzen Sie vor dem Fernseher? Gab es Streit zwischen ihnen und ihrem Mann? Könnte der Fötus während der Schwangerschaft verletzt worden sein? Diese und härte Frage wurden von der Verteidigung der Angeklagten gestellt. („Der dreifache Skandal“, S. 129).

So ist es kein Wunder, daß am 18. Dezember 1970 gemäß § 153 StPO wegen Geringfügigkeit eingestellt wurde.

In seinem Einstellungsbeschluß stellte das Gericht die Kausalität zwischen der Conterganeinnahme (bzw. Thalidomideinnahme) und die Nervenschäden und Mißbildungen fest. Festgestellt wurde auch, dass die Angeklagten schuldhaft gehandelt haben. Die Schuld sei jedoch insgesamt als gering zu bewerten.

Vergleich

Am 10. April 1970 schloßen die Eltern der Betroffenen durch ihren Rechtsanwalt Dr. Dr. Rupert Schreiber mit der Firma Chemie Grünenthal einen Vergleich. Sie verzichteten darin auf Schadensersatzansprüche in Milliardenhöhe gegen einen Entschädigungsbetrag von 100 Millionen DM plus Zinsen, der nach Schadensgrad bemessen an die Betroffenen ausgezahlt werden sollte. Gezahlt werden sollten die 100 Millionen DM in zwei Raten zu je 50 Millionen DM. Die erste Rate wurde sofort und die zweite sollte bis zum 30.6.1973 zuzüglich 6½ Prozent Jahreszinsen ab Abschluß des Vertrages auf ein Treuhandkonto eingezahlt werden.

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Das Treuhänderkonto wurde von einem Treuhändergremium verwaltet, das aus den Rechtsanwälten Dr. Dörr, Wartensleben und Schreiber bestand, wobei die Herren Dr. Dörr und Wartensleben die von Grünenthalbestellten Treuhänder waren und Herr Dr. Dr. Schreiber von den Elternbestellt wurde. Der Rechtsanwalt und Notar Dr. Günter Dörr war Verteidiger des Angeklagten Dr.Dr. Schrader-Beielstein im Alsdorfer Strafprozeß. Der Rechtsanwalt Herbert Wartensleben war damaliger Leiter der Rechtsabteilung der Firma Grünenthal. Rechtsanwalt Dr. Dr. Rupert Schreiber war Privatdozent für Rechtswissenschaft an der Universität Köln und Nebenklagevertreter der Eltern im Strafprozeß. Die Treuhänder konnten nur „einstimmig“ beschließen und hatten darüber zu entscheiden, welche Kinder bei der Verteilung der Gelder zu berücksichtigen sind. Ein Gutachtergremium sollte festlegen, „welche Kinder als fehlgebildet i.S. der Präambel anzusehen sind (medizinischer Zulassungsausschuß)“.

Mit diesem Vergleich wurden die ursprünglichen Schadensersatzansprüche in Höhe von 10 Milliarden DM auf 100 Millionen DM reduziert. Denn die Eltern mußten auf die Ursprungsansprüche verzichten, um die 100 Millionen DM aus dem Vergleich zu erhalten.

Der Vergleich kam nur zustande, weil die Eltern in einer Notlage standen:

Sie brauchten dringend Geld, um die Versorgung der contergangeschädigten Kinder sicher zu stellen. Die Durchsetzung der regulären Schadensersatzansprüche auf dem Zivilrechtswege hätte bei Ausschöpfung sämtlicher Instanzen etwa 12 Jahre gedauert. Dies war ein zu langer Zeitraum. Denn die Geldmittel wurden sofort benötigt. Zudem hätte jedes Elternpaar für sein contergangeschädigtes Kind über diesen Zeitraum hinweg das gesamte Prozeßrisiko alleine tragen müssen, was bei der ohnehin schon angeschlagenen finanziellen Situation der Eltern unmöglich gewesen wäre.

RANDBEMERKUNG

Dennoch läßt die Familie Wirtz auf der Internet-Seite der Firma Grünenthal und in ihren Presseerklärungen immer wieder verlautbaren, die 100 Millionen DM Summe des Vergleichs hätte „über dem Betrag” gelegen, „den neutrale Sachverständige damals als maximal wirtschaftliche Belastung für Grünenthal ansahen”.

Derartige Verlautbarungen sind nichts anderes als subtil gestreute Beschönigungen, mit denen Grünenthal sich vom Täter in das Licht eines Wohltäters rücken möchte, der angeblich bis zum Äußersten gegangen ist, um den angerichteten Schaden wieder gut zu machen.

Die maximalen wirtschaftlichen Belastungen, unter denen die Eltern zum damaligen Zeitpunkt standen, und die wirtschaftlichen Belastungen, welche die Eltern im Rahmen des Vergleichs durch den Verzicht auf die Ursprungsschadensersatzansprüche in Milliardenhöhe auf sich nahmen, werden gemäß der Wirtz´schen Familientradition Verleugnen, Lügen und Schönreden geflissentlich übergangen.

Verschwiegen wird von der Familie Wirtz dabei auch, dass bei einer Durchsetzung der ursprünglichen Schadensersatzansprüche in Höhe von 10 Milliarden DM (5 Milliarden Euro) nicht nur Grünenthal sondern auch das restliche Firmenkonsortium wie die Firma Mäurer & Wirtz und die Dalli-Werke wirtschaftlich hätte einbezogen werden müssen.

Stiftungsverhandlungen

Noch während der Vergleich ausgehandelt wurde, verhandelte die Bundesregierung mit den Eltern über ein Stiftungsgesetz, das den Betroffenen weitere Hilfen in Form von Renten und einmaligen Kapitalabfindungen zukommen lassen sollte. Das Bundesjustizministerium war für die Verhandlungen um das Stiftungsgesetz auf Seiten der Bundesregierung federführend. Nach den ersten Entwürfen sollte die Stiftung alle gliedmaßengeschädigten Kinder in der Bundesrepublik, also nicht nur die contergangeschädigten, einbeziehen und ihr Vermögen durch die 100 Millionen DM plus Zinsen des Vergleichs sowie durch Zahlungen in etwa gleicher Höhe aus Mitteln des Bundes, der Wohlfahrtsverbände und der Industrie zusammengestellt werden. Diese Stiftungsform scheiterte jedoch, weil „die Organisationen der Freien Wohlfahrtspflege fürchteten, durch Spenden für die Stiftung könnten ihre eigenen Spendeneinnahmen geschmälert werden“ und wegen „der ausbleibenden Spendenzusagen“ seitens der Industrie. Eine Stiftung „Lex Contergan“ nur für die Contergangeschädigten hatte die damalige Bundesregierung (SPD/FDP) abgelehnt.

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Die Eltern hatten sich nie grundsätzlich einer Stiftungsidee widersetzt. Doch wurden die Verhandlungen stets unter der Voraussetzung geführt, daß die zukünftige Stiftung hinsichtlich ihrer Leistungen den Contergankinder zu dem Vergleich zusätzliche Vorteile bietet; sie also besser stellt. Grund für eine derartige Forderung war die schlichte Überlegung, daß bei einer Gleich- bzw. Schlechterstellung durch eine solche Stiftung immerhin der Vergleich noch eine sichere Grundlage für eine Entschädigung der Kinder gewesen wäre.

Jedoch ereignete schon während der Stiftungsverhandlungen sich für die Eltern der Mißtrauen erweckende Fall, daß der damals amtierende Bundesjustizminister Gerhard Jahn (Gerhard Jahn war lange Zeit Präsident des deutschen Mieterschutzbundes) von den Elternvertretern und den Treuhändern des Vergleiches verlangte, ihm „kurzfristig“ die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über die Vergleichsgelder der Betroffenen zu übertragen. Der Bundesjustizminister verlangte dies, obwohl eine entsprechende Stiftung weder existierte, noch sicher war, ob die damals bestehenden Entwürfe überhaupt umgesetzt worden wären.

In einem Rundschreiben der Treuhänder des Vergleiches Dörr, Wartensleben und Schreiber an die Eltern vom 9.7.1971 wurde dieser Vorfall festgehalten:

„Wie in der Presse bereits mitgeteilt, hatte man von den Treuhändern kurzfristig verlangt, die 100 Millionen DM plus Zinsen einer noch nicht existenten Stiftung auf der Grundlage des bestehenden Gesetzentwurfes bedingungslos zur Verfügung zu stellen. …”

Daß es bei diesem Versuch nicht blieb, an das Geld der Contergankinder ohne das Einverständnis der Eltern heranzukommen, zeigt ein weiterer, ähnlich gelagerter und ebenfalls in einem Rundschreiben der Treuhänderan die Eltern vom 15.10.1971 festgehaltener Vorfall:

„Das Bundesjustizministerium war der Auffassung, die Verwaltung des Geldes Ihrer Kinder als Sondervermögen sei so selbstverständlich, daß dies nicht in das Gesetz hätte aufgenommen werden müssen. Die weitere Diskussion, insbesondere mit Vertretern anderer damit befaßter Behörden hat jedoch ergeben, daß mit einer, wenn auch vorübergehend anderweitigen Verwendung der Gelder gerechnet werden muß, wenn die von uns geforderte Klarstellung nicht im Gesetz verankert wird.”

Zudem mußten die Treuhänder erfahren, daß der Bundesjustizministersogar Schritte unternahm, um zu verhindern, daß die Krankenkassen und Sozialämter auf ihre übergeleiteten Ansprüche gegen die Firma Grünenthal verzichteten, was zur Folge gehabt hätte, daß der Vergleich nicht wirksam geworden wäre.

Die Krankenkassen und Sozialämter hatten aufgrund der schweren Gesundheitsschäden der Betroffenen Leistungen z. B. wegen Hilfsmittel und der Versorgung der Betroffenen zu erbringen. Normalerweise muß der Verursacher solcher Gesundheitsschäden den Krankenkassen und Sozialämter diese Leistungen ersetzen. Die gesetzlichen Ansprüche der Krankenkassen und Sozialämter auf Zahlung dieser Leistungen gegenüber den Verursacher nennt man übergeleitete Ansprüche.

Laut § 11 des Vergleiches konnte Grünenthal solange die Aussetzung der Auszahlung der Vergleichsgelder an die Betroffenen verlangen, bis sichergestellt war, daß sie

„keine übergeleiteten Ansprüche (z.B. aus Leistungen der Bundessozialhilfe oder der Krankenversicherung) von Personen, die Zahlungen aus diesem Vertrag erhalten würden, zu befriedigen hat.”

Sie konnte darüberhinaus, wie schon weiter oben erwähnt,

„jederzeit die Zurückzahlung der auf dem Treuhandkonto gutgeschriebenen Geldbeträge vor Beginn der Auszahlungen verlangen und nach diesem Zeitpunkt auch die Einzahlung weiterer Geldbeträge auf dieses Konto verweigern, wenn nicht sichergestellt ist, daß sie keine übergeleiteten Ansprüche von Personen, die Zahlungen aus diesem Vertrag erhalten würden, zu befriedigen hat.”

Mit der Verhinderung des Verzichts auf die Geltendmachung ihrer übergeleiteten Ansprüche durch die Krankenkassen und Sozialämter wollte der Bundesjustizminister Druck auf das Treuhändergremium und die Elternvertreter ausüben, um durch die dadurch gefährdete Vertragsabwicklung die Vorzüge der von ihm angesetzten Stiftungsentwürfe herauszustellen. Tatsächlich enthielten die Entwürfe des Stiftungsgesetzes Bestimmungen, die eine Geltendmachung der übergeleiteten Ansprüche gesetzlich ausschlossen. Machten nun die Bestimmungen des Stiftungsgesetzes nach den Entwürfen die Abgabe der Verzichtserklärungen überflüssig, so wäre dies ein Vorteil der Stiftung zum Vergleich gewesen, der allerdings erst dadurch zum Vorteil wurde, weil Herr Jahn den Nachteil des Vergleichs erst verursacht hatte.

In dem oben bereits erwähnten Rundschreiben der Treuhänder Dörr, Wartensleben und Schreiber an die Eltern vom 9.7.1971 wurde dieser Vorfall ebenfalls festgehalten:

„Leider muß hier angemerkt werden, daß einige große private Krankenkassen trotz entsprechender Bitten bisher nicht reagiert haben, obwohl gerade sie leichten Herzens verzichten könnten, weil ihnen nach dem Versicherungsvertragsgesetz nur ein Quotennachrecht zusteht, d.h. ihre vermeintlichen Ansprüche wirtschaftlich wertlos sind.

Von den Sozialämtern können wir ihnen ebenfalls keine Erfolgsmeldung geben, da nur in Einzelfällen z.B. Berlin, Wiesbaden, Kreis Moers usw., Verzichtserklärungen abgegeben wurden.

In der Nordwestzeitung vom 8.6.1971 lesen wir aber, daß der Landessozialhilfeverband Oldenburg das Bundesjustizministerium um eine Besprechung wegen des Verzichts auf übergeleitete Forderungen gebeten habe. Eine Besprechung wäre jedoch nicht für nötig befunden worden, weil der Gesetzentwurf zur Errichtung einer Stiftung für behinderte Kinder eine Abgabe der Verzichtserklärungen überflüssig mache. Dieser Gesetzentwurf lag aber seit langem vor, als Justizminister Jahn am 4.11.1970 die Kassen und Sozialhilfeträger um Abgabe einer Verzichtserklärung gebeten hatte.”

Zum besseren Verständnis der Zitatstelle muß noch erwähnt werden, daß mit der Bundesregierung vereinbart war, die Abwicklung des Vergleiches von den Stiftungsverhandlungen unabhängig zu machen, damit man bei einer eventuellen Ablehnung des letztmöglichen Stiftungsentwurfs keine Zeit zur Durchführung der Auszahlung der Vergleichsgelder verloren hätte. Der Bundesjustizminister hatte sich zunächst dazu bereit erklärt, die Krankenkassen und Sozialhilfeträger aufzufordern, auf ihre übergeleiteten Ansprüche zu verzichten, änderte aber dann seine Haltung, um das Inkrafttreten des Stiftungsgesetzes zugunsten Grünenthals voran zu treiben.

Dennoch wurde am 17. Dezember 1971 das Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ vom Bundestag verabschiedet und verkündet. Es wurde aber noch nicht in Kraft gesetzt. Nach seinem § 29 konnte das Gesetz nur in Kraft treten, wenn die Vergleichsgelder der Stiftung „im vollem Umfang“ (ohne Abzüge und Bedingungen) zur Verfügung gestellt worden wären. Der Bundesjustizminister hatte festzustellen, ob diese Voraussetzung vorlag, und dann das Inkrafttreten des Gesetzes im Bundesgesetzblatt bekanntzugeben.

Nach dieser letztendlichen Fassung des Stiftungsgesetzes bestand die Stiftung aus zwei Teilen:

Einen allgemeinen Teil, der allgemein behinderten Kindern zugute kommen sollte. Der allgemeine Teil sollte beispielsweise Einrichtungen (zur ärztlichen Behandlung und pflegerischen Versorgung behinderter Kinder usw.) sowie Forschungs- und Erprobungsvorhaben (z.B. zur Entwicklung v. Prothesen usw.) fördern. Für den allgemeinen Teil des Stiftungsgesetzes wurden 50 Millionen DM aus Bundesmitteln zur Verfügung gestellt.

Der zweite Teil, auch Conterganteil genannt, sollte Leistungen in Form von lebenslangen Renten und einmaligen Kapitalabfindungen nur an die Conterganopfer erbringen. Auch war vorgesehen, daß die Rente für die Beschaffung von Wohnraum für das betroffene Kind oder, wenn dies im Interesse des Behinderten lag, auf 15 Jahre kapitalisiert werden konnte. Der Conterganteil sollte mit den 100 Millionen DM des Vergleichs der Conterganopfer und mit zusätzlichen 50 Millionen DM aus Bundesmitteln ausgestattet werden. In zwei Professorengremien (Stiftungskommissionen) sollte der Schadensgrad der Betroffenen festgestellt werden. Wie bereits oben erwähnt, konnte das Stiftungsgesetz gemäß § 29 nur in Kraft treten, wenn die Eltern die Treuhänder anwiesen, die 100 Millionen DM Vergleichsgelder ihrer Kinder der Stiftung „in vollem Umfang” (ohne Abzüge und Bedingungen)zur Verfügung zu stellen.

Doch hatte der zweite Teil des Stiftungsgesetzes für die Conterganopfererheblich Nachteile:

So war ein Nachteil, daß die Leistungen der Stiftung jederzeit durch ein einfaches Gesetz herabgesetzt oder gestrichen werden konnten. Das ist auch heute noch so.

Außerdem fehlten dem Gesetz, das in einer Zeit der Geldentwertung verabschiedet wurde, Bestimmungen, die zwingend vorschrieben, die Rentenansprüche dem laufenden Geldwertzerfall anzupassen (Dynamisierung).

Im Mai 1971 gab es eine Währungskrise infolge eines verstärkten Dollarzuflusses, so daß zu befürchten war, daß die Eltern bares Geld für eine Anlage hergeben sollten, die nach ein paar Jahren weniger als die Hälfte wert gewesen wäre. Im Jahre 1976 mußten die Eltern mit der Androhung einer Demonstration kurz vor den Bundestagswahlen die damalige Bundesregierung dazu zwingen, die Renten anzuheben.

Auch war nicht sicher, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang die Kapitalisierung der Rente möglich sein und auf welche Art die Höhe des daraus entstehenden Kapitalbetrages errechnet werden sollte. Dieses sollte durch die Satzung und Richtlinien der Stiftung geregelt werden, deren letztendlicher Inhalt jedoch erst nach Inkrafttreten des Gesetzes vom Stiftungsrat zu beschließen war.

Dafür enthielt das Stiftungsgesetz aber in seinem § 23 eine gesetzliche Regelung, die jegliche Geltendmachung von weiteren Schadensersatzansprüchen durch die Geschädigten gegen Grünenthal für immer ausschloß. Diese Bestimmung wurde durchgesetzt von dem Sozius der Rechtsanwaltskanzlei des Justizministers des Landes NRW Neuberger, die einen der Grünenthalverantwortlichen im Conterganstrafprozeß vertrat.

Per Gesetz wurde mit § 23 demnach ein endgültiger Ausschluß aller Ansprüche (auch die zukünftigen) festgeschrieben, so dass auch die erst später erkannten, gravierenden Folgeschäden der Betroffenen nicht berücksichtigt werden konnten.

Aufgrund dieser Nachteile forderte das Treuhändergremium – zunächst noch gemeinsam, später der Elterntreuhänder Dr. Dr. Schreiber alleine – den Bundesjustizminister dazu auf, den Eltern eine einklagbare Garantieabzugeben, daß Kapitalentschädigung und kapitalisierte Rentemindestens so hoch sind wie der Betrag, den sie durch den Vergleicherhalten würden.

Die Treuhänder schrieben am 16. August 1972 an den Bundesjustizminister:

„Wir haben Anlaß zu befürchten, daß die im Gesetz vorgesehenen Kapitalisierungsmöglichkeiten von den Stiftungsorganen so restriktiv gehandhabt werden, daß die Kinder infolge der laufenden Geldentwertung und der fehlenden Dynamisierung der Rente trotz der zusätzlichen 50 Millionen DM am Ende weniger an Wert erhalten als sie eingebracht haben. Geben Sie den Kindern die einklagbare Gewähr dafür, daß Kapitalentschädigung und kapitalisierte Rente – wie zugesagt – mindestens so hoch sind wie der Betrag, den sie durch den Vergleich erhalten würden. Dann ist der von uns gewählte Weg der Sicherstellung im Schreiben vom 9.6.1972 nicht nötig.

Wir bitten Sie nunmehr den Tag des Gesetzes bekanntzugeben.”
(gez. Dörr, Schreiber, Wartensleben)

Ein weitere Anlaß dieses Schreibens war die wiederholte Forderung des Bundesjustizministers in einem Schreiben vom 7. Juli 1972, der Stiftung und deren damals noch nicht existierenden Organen die „volle und uneingeschränkte Verfügungsgewalt“ über die Gelder der Kinder zu geben. Es hieß dort u.a.:

„Sehr geehrte Herren,

nach dem in § 29 des o. a. Gesetzes eindeutig und unmißverständlich zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers sind die Voraussetzungen für das Inkrafttreten des Gesetzes nur dann erfüllt, wenn alle erforderlichen rechtsgeschäftlichen Erklärungen abgeben sind, die eine volle und uneingeschränkte Verfügungsgewalt der Stiftungsorgane über das von der Firma Chemie Grünenthal zur Verfügung gestellte Geld einschließlich der Erträge und Zinsen sicherstellen, d.h., wenn ein uneingeschränkter und unbedingter klagbarer Anspruch der Stiftung gegen die in Betracht kommenden Personen (die Treuhänder und für die noch ausstehenden Zahlungen die Firma Chemie Grünenthal) begründet worden ist. ….

Entgegen Ihrer Auffassung sind daher die Voraussetzungen für das Inkrafttreten des Gesetzes nicht erfüllt, so daß ich mich außerstande sehe, gemäß § 29 Satz 2 das Inkrafttreten bekanntzugeben. Hierzu bin ich rechtlich erst befugt, wenn die Einbringung der gesamten Mittel tatsächlich in dem oben bezeichneten Sinne vollzogen ist. ….” (Unterstreichungen durch uns)

Die Treuhänder antworteten in ihrem oben erwähnten Schreiben an den Ministers vom 16. August 1972 wie folgt:

„Sehr geehrte Herr Minister!

Wir haben durch unsere Erklärung vom 9.6.1972 sichergestellt, daß die Stiftung ins Leben treten und alle ihre Aufgaben erfüllen kann. Das Gesetz ist damit in Kraft getreten.

In Ihrem Schreiben stellen Sie lediglich die Behauptung auf, die Zurverfügungstellung der Gelder der Kinder durch die Treuhänder sei nicht ausreichend. Sie berufen sich hierbei nicht auf den Wortlaut des Gesetzes, der lediglich verlangt, daß „sichergestellt ist, daß die in § 4 Abs. 1 Nr.2 genannten Mittel im vollem Umfang zur Verfügung gestellt werden“.

Es ist eine willkürliche Interpretation, wenn Sie über diesen Wortlaut hinausgehen, und nunmehr eine vorbehaltlose Zurverfügungstellung verlangen. Auch Ihr Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des Gesetzes kann hieran nichts ändern. Bei der Auslegung von Gesetzen ist vom Wortlaut, wie er verabschiedet wurde, nicht aber von möglichen Wünschen und Vorstellungen derer, die an dem Gesetz mitgearbeitet haben, auszugehen. Im übrigen können wir uns nicht erinnern, daß bei der Entstehung des Gesetzes davon die Rede war, die Stiftung solle frei über das Geld der Kinder verfügen können. Im Gegenteil haben alle die vorgesehene Bindung der Stiftung an das Wohl der Kinder betont und eine entsprechende Beschränkung der Organe der Stiftung zugesagt. ….”

Daraufhin war der Minister lediglich dazu bereit, die Stiftungssatzung abzuändern. Die Sätze 2 – 4 von § 10 Abs.1 des Satzungsentwurfs erhielten letztlich folgende Formulierung:

„Ein wesentlicher Zweck der gesetzlichen Regelung besteht darin, die sogenannten Contergan-Kinder besser zu stellen, als sie bei einer Abwicklung des …. genannten Vertrages stünden. Dieser Zweck ist im Einzelfall zu berücksichtigen. Ferner haben die Stiftungsorgane die Betroffenen in Ansehung ihrer Ansprüche zu beraten.”

Der Elterntreuhänder Dr. Dr. Schreiber schrieb daraufhin am 1. September 1972 an den Bundesjustizminister folgenden Brief:

„Sehr geehrter Herr Minister!

In der letzten Besprechung am 23. Juni 1972 hat Herr Ministerialrat Schminke erklärt, die Bundesregierung könne keine Garantie übernehmen, daß die nach den in Satzung und Richtlinien niedergelegten und mündlich erklärten Absichten der Bundesregierung von der Stiftung verwirklicht werden, da die Stiftung rechtlich selbständig sei. Herr Ministerialdirektor Bahlmann hat mit aller Deutlichkeit erklärt, daß das Gesetz grundsätzlich die Verrentung vorsehe und nur in Ausnahmefällen eine Kapitalisierung möglich sei. Er hat darüberhinaus die Befürchtung geäußert, daß die Eltern durch die Treuhänder unterstützt werden könnten, möglichst viel geeignete Kapitalisierungsanträge zu stellen.

Schon aus diesem Grunde kann eine weitere Differenzierung von Zusicherungen, die alle nicht einklagbar sind, nichts daran ändern, daß die versprochene Sicherstellung nicht besteht.

Im Gegenteil, die Tatsache, daß Sie das Inkrafttreten des Gesetzes nicht verkünden mit der Begründung, daß Sie die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über das Geld der Kinder für die Stiftung fordern, zeigt, daß sie einen größeren Spielraum zum abschlägigen Bescheid von Anträgen der Eltern erhalten wollen, als sie nach den von Ihnen entwickelten Vorstellungen überhaupt brauchen.

Es bedeutet keine Sicherstellung, wenn in weiteren Entwürfen Hinweise gegeben werden, die Anträge der Eltern würden durchweg positiv beschieden; denn diese Regelungen determinieren die Entscheidungen der Stiftungsorgane nicht. Es ist einfacher, daß Sie den Kindern einen einklagbaren Garantieanspruch geben, daß Kapitalabfindung und kapitalisierte Rente nicht geringer sind als der Betrag, den die Kinder aus dem Vergleich bekommen würden. In diesem Punkt haben Sie das Schreiben der Treuhänder vom 16. August 1972 überhaupt nicht beantwortet.

Für die Stiftung wollen Sie 100 Millionen DM, die den Kindern heute schon zu Eigentum gehören, gegen das Versprechen, daß den Kindern dieses Geld ohne Wertminderung wieder zufließt. Es ist Ihre Sache sicherzustellen, daß den Kindern ein Nachteil nicht entsteht.

Ich habe Vorschläge gemacht, wie die Schwierigkeiten, die durch unzweckmäßige Ausgestaltung des Gesetzes gegen meinen Rat entstanden sind, beseitigt werden können. Ich habe mithelfen und nichts unversucht lassen wollen, was das Gesetz verwirklichen könnte. Ich halte es nicht für den richtigen Weg, daß an diesen meinen Vorwürfen eine üble Nachrede angehängt wird.

Seit zweieinhalb Jahren arbeite ich an der Verwirklichung des Gesetzesvorhabens mit. Ich bin auf Abruf für Besprechungen zur Stelle. Ich habe viele Vorschläge gemacht. Ich habe eine Reihe von Entwürfen für Regelungen vorgelegt, die alle eine Lösung der Probleme gewesen wären. Obwohl diese Vorschläge zur Verwirklichung des Zieles gedient haben, das Sie immer nennen, nämlich den Kindern die größtmögliche Hilfe zu gewähren, haben Sie diese Vorschläge zur Seite geschoben.

Geben Sie eine Sicherstellung, daß die Kinder durch die Stiftung besser gestellt werden. Wählen Sie selbst den Weg. Aber geben Sie die Sicherstellung in Form verbindlicher Garantien und nicht in Klauseln, die ein Ergebnis in Aussicht stellen, für das die Garantieerklärung abgelehnt wird.

Mit freundlichen Grüßen

Rupert Schreiber”

Die von den Treuhändern geforderte einklagbare Gewähr dafür, „daß Kapitalentschädigung und kapitalisierte Rente – wie zugesagt – mindestens so hoch sind wie der Betrag, den sie durch den Vergleich erhalten würden”, hat der Bundesjustizminister nie abgegeben.

Rolle des Bundesverbandes

Der Bundesverband der Eltern körpergeschädigter Kinder e.V. – Contergangeschädigten-Hilfswerk – (heute Bundesverband Contergangeschädigter e.V.) wurde am 16. März 1963 in Menden gegründet (Vereinsregister Menden VR 201). Er ist ein Zusammenschluß sämtlicher Landes- und Ortsverbände, die sich als Interessenvertretungen der Eltern der Conterganopfer gebildet haben. Aufgabe des Bundesverbandes sollte es u.a. sein, die Interessen der Contergankinder und deren Eltern gegenüber der Firma Grünenthal und der Bundesregierung durchzusetzen.

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Da der Bundesverband seit seiner Gründung durch seine Funktionäreimmer wieder von einem Finanz- und Korruptionsskandal in den nächsten gerissen wurde, ist auch kein Wunder, dass der Bundesverband bei den Auseinandersetzungen um das Stiftungsgesetz seine ihm von Anfang an wesenseigene Rolle einnahm:

Zur Zeit der Verhandlungen um das Stiftungsgesetz wurde der Kaufmann Hans-Helmut Schleifenbaum, Vater eines Contergan-Kindes, am 22.4.1972 zum 1. Vorsitzenden des Bundesverbandes gewählt.

Bundesjustizminister Gerhard Jahn weigerte sich stets eine von den Treuhändern der Vergleichsgelder geforderte, einklagbare Garantie abzugeben, dass die Conterganopfer durch die Stiftung besser oder zumindestens genauso gut gestellt werden wie mit dem Vergleich. Anstatt dessen versprach er dem Vorsitzenden des Bundesverbandes, Hans-Helmut Schleifenbaum, einen Vorstandsposten innerhalb der Stiftungund sowohl dem Grünenthaltreuhänder und ehemalige Leiter der Rechtsabteilung der Firma Grünenthal Herbert Wartensleben als auch dem Rechtsanwalt und ehemaligen Nebenklägervertreter Karl-Hermann Schulte-Hillen, der ebenfalls als Funktionär des Bundesverbandes über einen Finanzskandal gestolpert war, je einen Kommissionsvorsitz in den beiden Professorengremien der Stiftung. Alle diese Zusagen wurden später wahrgemacht. Nach diesem Versprechen war der anfänglicher Widerstand dieser drei Herren in Begeisterung für die Stiftung umgeschlagen. Während der Elterntreuhänder Schreiber mit Überlegungen und Besprechungen beschäftigt wurde, wie eine Sicherstellung der anfangs noch von den drei Treuhändern geforderten Art bei der Bundesregierung zu erreichen sei, bereiteten Schulte-Hillen, Wartensleben und Schleifenbaum eine Aktion vor, um ihn bei der Meinungsbildung der Eltern auszuschalten.

Das Ergebnis dieser Vorbereitungen waren Rundschreiben, die die angebliche Vorzüge der Stiftungslösung hervorhoben und den Eindruck vermittelten, eine weitere Verbesserung des Gesetzes sei weder nötig noch möglich. Dabei teilten sie den Eltern u.a. mit, ein weiterer besonderer Vorteil des Gesetzes gegenüber der Vergleichslösung sei, daß das Gesetz durch seinen § 23 den ausbleibenden Verzicht auf Geltendmachung der übergeleiteten Ansprüche einiger weniger Krankenkassen und Sozialämter gegen Grünenthal überflüssig mache. Wir erinnern uns zurück, daß gerade der Bundesjustizminister das Ausbleiben dieser Verzichtserklärungen bewerkstelligt hat und dem Bundesverbandsvorsitzenden dieser Umstand bekannt war. Zudem enthielte laut Bundesverband das Stiftungsgesetz zwar keine Dynamisierung der Renten, doch könne in den nächsten Jahren mit einer solchen gerechnet werden. Entsprechend äußerte sich bereits der Bundesjustizminister zu dem Treuhänder Dr. Dr. Rupert Schreiber.

Auch waren in den Sendungen Anträge an die Stiftung (mit Kontenangabe) und Zustimmungserklärungen enthalten, die in den Eltern den Eindruck entstehen ließen, eine Auszahlung der Leistungen der Stiftung stünde unmittelbar bevor und in denen die Treuhänder angewiesen wurden, die Vergleichgelder auf die Stiftung zu übertragen. 86 % der Eltern haben daraufhin das Zustimmungsformular, das keinerlei Wahlmöglichkeit zuließ, unterschrieben. Einige Eltern schickten daraufhin wütende Briefe, der Rest meldete sich nicht. Da dieses Formalur jedoch rechtliche Mängel aufwies, versandten die Treuhänder ein Schreiben, das eine Ermächtigungserklärung enthielt, die den Treuhändern lediglich die Vollmacht gab, unter Umständen – und unter der immer wieder erwähnten Voraussetzung der Besserstellung der Betroffenen durch die Stiftung – die Gelder auf die Stiftung zu übertragen. In der dem Schreiben der Treuhänder vom 29. Februar 1972 beigefügten Ermächtigungserklärung heißt es dann auch:

„Ermächtigung

Wir haben den Text des Gesetzes über die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ vom 17.12.1971, die Entwürfe der Bundesregierung von Satzung und Richtlinien und das Anschreiben der Treuhänder vom 29.2.1972 zur Kenntnis genommen.

Auf dieser Grundlage ermächtigen wir als gesetzliche Vertreter des Kindes ……….. , geb. am ……… die Treuhänder Günter Dörr, Rupert Schreiber und Herbert Wartensleben, den Entschädigungsbetrag, der unserem Kind aus dem Vertrag zwischen der Firma Chemie Grünenthal GmbH und Herrn Rupert Schreiber vom 10.4.1970 zusteht, auf die genannte Stiftung zu übertragen. Die Leistung an die Stiftung gilt als Erfüllung des Vertrages.

Wir erklären ausdrücklich, daß wir dann gegen die Treuhänder keine Ansprüche mehr haben und sie von ihrer Verantwortung entlasten. ….” (Es folgen nur noch Wohnort, Straße, Haus-Nr., Datum und Unterschrift beider Eltern; Unterstreichung durch Verf.)

Diese Ermächtigungserklärung hat dann wieder ein Großteil der Elternunterschrieben.

Da aber die von der Bundesregierung zugesicherte Sicherstellung der Kinder ausblieb und der Bundesjustizminister aus diesem Grunde eine entsprechende einklagbare Garantie verweigerte und die Bundesverbandsvorsitzenden die Eltern über diesen Umstand im Unklaren ließen, versuchte der Elterntreuhänder Dr. Dr. Rupert Schreiber, die Eltern in Rundschreiben über die wahre Sachlage aufzuklären. In verleumderischen Rundbriefen versuchte der Vorstand des Bundesverbandes daraufhin, den Elterntreuhänder bei der Elternschaft zu diskreditieren, in dem er ihm unterstellte, sein Engagement für die Interessen der Contergankinder sei lediglich dadurch motiviert, durch eine Weiterführung des Vergleichs weitere Honorargelder in Millionenhöhe erhalten zu wollen. Verschwiegen wurde dabei, dass Grünenthal ohnehin verpflichtet war, alle Kosten des Vergleichs (auch die Anwaltshonorare) zu tragen. Es wurde dabei ebenso wohlweislich verschwiegen, daß Rechtsanwalt Schulte-Hillen nach Abschluß des Vergleichs eine ebenso hohe Summe von Grünenthal erhalten hat, obwohl er nur bei den Vergleichsverhandlungen dabei war und ihn nicht mit unterzeichnet hatte.

Es ist schon verdächtig, daß sich Bundesverbandsfunktionäre darüber grämen, daß auf Grünenthal vertraglich vereinbarte Kosten zukommen, zumal der Treuhänder Schreiber eine Übernahme seiner anwaltlichen Gebühren seitens der Eltern stets abgelehnt und auch niemals Zahlungen von ihnen erhalten hat. Doch der Verrat wird offensichtlich, wenn der Bundesverband den Eltern in einem Rundschreiben den Rat erteilen läßt, dem Treuhänder Schreiber das Treuhandmandat zu entziehen und es auf die Grünenthalanwälte Dörr und Wartensleben zu übertragen.

Wir erinnern uns zurück: Dr. Günter Dörr war Verteidiger des Angeklagten Dr. Dr. Hans Werner von Schrader-Beielstein im Alsdorfer Strafprozeß. Herbert Wartensleben war ehemaliger Leiter der Rechtsabteilung Grünenthals.

Wegen der Tragweite dieses Vorgangs wird das Schreiben vom 5. September 1972 hier wiedergegeben:

„Liebe Eltern!

Uns bleibt offensichtlich nichts erspart!

Der Treuhänder Dr. Dr. Schreiber ist immer noch nicht zur Vernunft gekommen. Er widersetzt sich weiterhin ihrem eindeutigen Auftrag, die Stiftung durch Übertragung der Gelder ins Leben zu rufen. Täglich gehen unseren Kindern über ca. 11000 DM Zinsen verloren, und die 50 Millionen DM der Bundesregierung stehen auf dem Spiel.

Sie müssen leider damit rechnen, daß dieser Mann, der offensichtlich alles daransetzt, unsere bei der Bundesregierung erkämpften Erfolge zunichte zu machen, Sie mit weiteren Schreiben belästigt, um Sie in Unruhe und Zweifel zu stürzen.

Wir haben in den letzten 11 Jahren manchen harten Sturm erlebt; wir werden auch einen Dr. Schreiber überleben.

Wir wissen, daß Sie nur das Wohl Ihres Kindes im Augen haben und gewohnt sind, Ihre Entscheidungen in Ruhe zu treffen. Bevor Sie einen Entschluß fassen, berücksichtigen Sie bitte unsere neueste Mitteilung.

Herr Dr. Dr. Schreiber fordert von der Chemie Grünenthal GmbH für eine Fortsetzung seiner Treuhändertätigkeit zusätzlich eine Summe, die auf über 1 Million DM hinausläuft, obwohl bereits ein seine gesamte Tätigkeit einschließendes Honorar vereinbart war!

Nachdem er mit dieser unbilligen Forderung keinen Erfolg hatte und sein Treuhänderamt kurz vor seinem Ende steht, läuft er jetzt Sturm, um dieses Ende hinauszuzögern.

Wir überlassen Ihnen die Frage, ob das Interesse dieses Mannes dem Schicksal unserer Kinder gilt oder dem prallen Zustand seines Geldbeutels.

Wir wollen keinen Streit, sondern endlich Ruhe und eine finanzielle Absicherung unserer Kinder; sonst nichts!

Für diejenigen unter Ihnen, die das durchsichtige Spiel des Dr. Schreibers nicht mehr mitmachen wollen, legen wir ein entsprechendes Schreiben bei.

Mit den besten Wünschen für Sie und Ihre Familie

Der Vorstand”

Das „entsprechende Schreiben“ lautete:

„5. September 1972

Herrn
Rechtsanwalt Dr. Dr. Schreiber
5021 Widdersdorf
Christian-Hünseler Straße 46

Wir entziehen Ihnen hiermit mit sofortiger Wirkung den Auftrag, für unser Kind ………. als Treuhänder tätig zu sein.

Wir beauftragen gleichzeitig die Herren Treuhänder Dr. Dörr und Wartensleben, die Gesamttreuhänderschaft im Rahmen des Vergleichs mit der Chemie Grünenthal GmbH und der Überführung der treuhänderisch verwalteten Gelder auf die Stiftung für unser Kind abzuwickeln.

Mit der notwendigen Bestellung eines Ersatztreuhänders für Sie geht der Auftrag auf diesen über. ….” (Es folgen lediglich Datum, Unterschriften und Anschrift beider Eltern; Unterstreichungen Verf.)

Da nunmehr ein Teil der Eltern, die Gelder der Stiftung bedingungslos zur Verfügung stellen wollte, ein anderer die Einbringung grundsätzlich ablehnte, führte Herr Dr. Dr. Schreiber mit einem Formular, das mehrere Wahlmöglichkeiten zuließ, eine erneute Befragung durch. Die Eltern hatten dadurch die Möglichkeit, ihre Ermächtigungserklärung zu differenzieren. Die Wahlmöglichkeiten dieser Ermächtigungserklärung lauteten:

1. „Ich ermächtige die Treuhänder, den auf mein Kind entfallenden Entschädigungsbetrag bedingungslos der Stiftung zur Verfügung zu stellen.“

2. „Ich ermächtige die Treuhänder, den auf mein Kind entfallenden Entschädigungsbetrag unter der Bedingung der Stiftung zur Verfügung zu stellen, daß Kapitalentschädigung und kapitalisierte Rente mindestens so hoch sind wie der Betrag, den mein Kind durch den Vergleich erhalten würde.“

3. „Ich gebe keine Ermächtigung.“

Bei der überwiegendenden Mehrzahl der eingegangenen Erklärung haben sich die Eltern für die oben mit den Ziffern 2. und 3. gekennzeichneten Wahlmöglichkeiten entschieden, so daβ der Treuhänder der Eltern, Dr. Dr. Schreiber, aufgrund der vom Bundesjustizminister verweigerten einklagbaren Sicherstellung nicht befugt war, der Einbringung der Vergleichsgelder in die Stiftung zuzustimmen.

Doch der Vorstand des Bundesverbandes stoppte die Befragung mit dem Vorwand, nochmals über alles diskutieren zu wollen. Da der Bundesvorstand später immer wieder darauf bestanden hat, damit sei die Befragung durch Herrn Dr.Dr. Schreiber ungültig geworden, war dies nur ein weiterer Versuch, den Entscheidungsprozeß der Eltern zu manipulieren. Die Behauptung, die Befragung sei durch deren Unterbrechung ungültig geworden, war jedoch allein schon deshalb falsch, weil ein Treuhänder bzw. Vermögensverwalter rechtlich sogar dazu verpflichtet ist, bei Unklarheiten über die Entschlüsse seines Mandanten Erkundigungen einzuholen und, wenn diese ausbleiben, davon auszugehen hat, daß das Vermögen zunächst einmal da bleibt, wo es sich zuletzt befunden hat; nämlich in der Hand des Treuhänders.

Jedenfalls forderten die Eltern, mit Herrn Dr. Dr. Schreiber sprechen zu können und daß er zu den gegen ihn vorgebrachten Vorwürfen Stellung nehme. Auf einer Jahreshauptversammlung des Landesverbandes Baden-Würtemberg am 21. Oktober 1972 kamen die soeben skizzierten Vorgänge zur Sprache.

Als Gäste waren vom Vorstand geladen: Herr Justizminister Jahn, Herr Schleifenbaum als 1. Vorsitzender des Bundesverbandes und Herr Dr. Dr. Schreiber als Treuhänder, der die Rechte der contergangeschädigten Kinder im Treuhändergremium vertritt.

Als Gäste erschienen: Als Vertreter des Justizministers Herr Ministerialdirektor Bahlmann, als Vertreter von Herrn Schleifenbaum Herr Overlak, er brachte Herrn Wartensleben als seinen Rechtsberatermit. Dies war schon deshalb bedeutsam, weil bei einer Vorbesprechung verlangt wurde, daß Herr Wartensleben als Vertreter der Fa. Grünenthal nicht geladen werden dürfe, dieser auch nicht geladen wurde, wie der damalige 1. Vorsitzende des Landesverbandes ausdrücklich bestätigte.

Weiter erschien als Gast Herr Dr. Dr. Schreiber.

Es ergab sich von ca. 16.00 – 20.00 Uhr eine sehr lebhafte Diskussion. Hierbei nahmen zu Vor- und Nachteilen der Stiftung „Hilfswerk für das behinderte Kind“ Stellung: Eine Reihe von Eltern und Elternvertreter, Herr Ministerialdirektor Bahlmann, Herr Dr. Dr. Schreiber, Herr Wartensleben und Herr Overlak. In der Versammlung richteten sich erbitterte Angriffe gegen die Herren Bahlmann und Wartensleben, da die Eltern sich bewußt waren, daß sie übervorteilt würden. Fast ausnahmslos unterstützten die Eltern Herrn Dr. Dr. Schreiber und waren ihm dankbar, daß er die geschädigten Kinder trotz harter Angriffe gegen seine Person nicht im Stich ließ.

Auf der Versammlung kam klar zum Ausdruck, daß die überwiegende Mehrzahl der Eltern die Einbringung der Gelder in die Stiftung unter den bestehenden Bedingungen entschieden ablehnten.

Grünenthals Garantieerklärung

Da sogar in der juristischen Fachpresse die bestehende Fassung des Stiftungsgesetzes schwer bemängelt und eindeutige Verbesserungen vorgeschlagen wurden und um sich aber die für sie aus dem Gesetz ergebenden Vorteile zu sichern, überraschte Grünenthal die Öffentlichkeit mit der Nachricht, sie würde „über den Vertrag vom 10.4.1970 hinaus“ die zum Inkrafttreten des Stiftungsgesetzes benötigten 100 Millionen DM plus Zinsen zur Verfügung stellen.

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Grünenthals Interesse lag im § 23 des Stiftungsgesetzes, der die Geltendmachung von allen weiteren Schadensersatzansprüchen, insbesondere der heute immer häufiger werdenden und äußerst schmerzhaften gesundheitlichen Folgeschäden, gesetzlich ausschloß. Die Eltern gaben zwar bei der Abwicklung des Vergleichs eine Abfindungserklärung ab, mit der sie auf alle Ansprüche gegen die Firma Grünenthal verzichteten, doch hätten sie trotzdem unter der Vertragslösung rechtliche Mittel zur Verfügung gehabt, Grünenthal beim Auftreten von unvorhergesehenen Folgeschäden und bei Falschangaben über das Firmenvermögen, was damals vermutet werden konnte, zur Verantwortung zu ziehen (Das bedeutet nebenbei einen weiteren Vorteil der Vertragslösung, da man sowohl Schadensersatz als auch Schmerzensgeld hätte einklagen können). Nunmehr steht mit dem § 23 des Stiftungsgesetzes in einem deutschen Gesetz, daß dies nicht mehr möglich ist:

„(1)Etwa bestehende Ansprüche der in § 13 genannten Personen gegen die Firma Chemie Grünenthal GmbH, deren Gesellschafter, Geschäftsführer und Angestellte wegen eines von diesem Teil des Gesetzes erfaßten Schadensfalles erlöschen. Dies gilt auch, soweit etwa bestehende Ansprüche kraft Gesetzes, kraft Überleitung oder durch Rechtsgeschäft auf einen anderen übertragen worden sind. Bei Übertragung auf natürliche Personen und juristische Personen des privaten Rechts gilt zu deren Gunsten § 14 Abs.5 Satz 1 hinsichtlich der Kapitalentschädigung nicht.

(2) Ansprüche, die den in § 4 Abs.1 Nr.2 genannten Vertrag zur Grundlage haben, sind gegenstandslos.”

Mit den „in § 13 genannten Personen” sind die Contergangeschädigten gemeint.

Für Grünenthal war hierbei nur Satz 1 des 1. Absatzes dieser Gesetzesvorschrift wichtig. Nach dieser Vorschrift sollten durch Gesetz alle weiteren Schadensersatzansprüche der Geschädigten, insbesondere die der Folgeschäden „erlöschen“.

Satz 2 dieses Absatzes bezog sich auf die bereits oben erwähnten übergeleiteten Forderungen von Krankenkassen und Sozialämtern, die damit ausgeschloßen wurden.

Absatz 2 hatte ursprünglich lediglich deklaratorische Bedeutung, d.h., es sollte damit bekräftigt werden, daß, wenn die Eltern die Vergleichsgelder freiwillig in die Stiftung eingebracht hätten, sie keine Ansprüche aus dem Vergleich mehr geltend machen konnten. Da ursprünglich die Stiftung erst errichtet werden konnte, wenn das Gesetz in Kraft war, das Gesetz aber erst in Kraft treten konnte, wenn die Vergleichsgeldern der Geschädigten durch Zustimmung der Eltern der Stiftung zur Verfügung standen, konnte diese Bestimmung auch nur nach dem Inkrafttreten des Gesetzes wirksam werden. Wenn sie aber erst nach dem Inkrafttreten des Gesetzes wirksam werden konnte, was ja nur mit einem Verzicht auf die Vergleichsansprüche verbunden war, konnte sie auch nur eine klarstellende Bedeutung haben. Später wurde diese Bestimmung jedoch von Grünenthal dazu mißbraucht, um die restlichen, sich auf dem Treuhänderkonto befindlichen 50 Millionen plus Zinsen und mittlerweile wegen der hohen Zinsanlage angewachsenen Erträgnisse herauszuklagen.

Als der Leiter der Rechtsabteilung Grünenthals, Wartensleben, auf der Jahreshauptversammlung des Landesverbandes Baden-Würtemberg erleben mußte, wie sehr die Eltern gegen die damalige Fassung des Gesetzes aufgebracht waren, fürchtete Grünenthal darum, daß die Bestimmung des § 23 des Stiftungsgesetzes nicht wirksam würde. Grünenthal stellte Überlegungen an, wie man den Elternwillen sowie den für sie unbequemen Treuhänder Dr. Dr. Schreiber ausschalten und das Inkrafttreten ohne deren Zustimmung erreichen könnte. Zudem wußte sie, daß auch der Bundesjustizminister einen politischen Erfolg brauchte und bisher alles darangesetzt hatte, das Stiftungsgesetz in Kraft zu setzen.

Um so dankbarer muß sie dann wohl gewesen sein, als Herr Jahn ihr Vorschläge unterbreitete, wie man die gemeinsamen Probleme aus der Welt schaffen konnte. Bei Böhm heißt es dazu auf Seite 24:

„Um sicherzustellen, daß der Stiftung die vollen 100 Millionen DM plus Zinsen zur Verfügung gestellt werden, verhandelte der Bundesjustizminister mit der Firma Chemie Grünenthal GmbH und erhielt Ende Oktober 1972 folgende schriftliche Zusage: ….”
(Es folgt ein Zitat aus der sogenannten „Garantieerklärung“; Unterstreichungen durch uns.)

Wie eng das beiderseitige Einvernehmen war und wir sehr auch der Bundesjustizminister davon profitieren konnte, dokumentiert wieder sehr anschaulich Böhm, wenn er auf der nachfolgenden Seite berichtet:

„… Diese Pressseerklärung des Bundesjustizministers ist wahrlich keine Ruhmestat: im Wahlkampf rühmt er sich eines Mutes, den er im Interesse der geschädigten Kinder schon sechs Monate früher hätte unter Beweis stellen können! Er verschweigt dabei völlig die Mitwirkung der Firma Chemie Grünenthal GmbH, durch deren zusätzliche Garantieerklärung er überhaupt erst in die Lage versetzt worden ist, der Bundesregierung in der Kabinettsitzung vom 31. Oktober 1972 die Zustimmung zum Inkrafttreten des Gesetzes anzuempfehlen.”
(Unterstreichungen durch uns)

Die Nachricht der Firma Grünenthal, sie hätte der Stiftung zu derem Inkrafttreten 100 Millionen DM plus Zinsen zur Verfügung gestellt, war enthalten in einem Schreiben an den Bundesjustizminister vom 25. Oktober 1972. Es wurde also vier Tage nach der bereits erwähnten Jahreshauptversammlung des Landesverbandes Baden-Würtemberg am 21. Oktober 1972 erstellt. Das Schreiben war der Allgemeinheit und dem Elterntreuhänder Schreiber nur in einer gekürzten Fassung bekannt. Es wurde lediglich im Jahr 1973 in dem bereits erwähnten Kommentar zum Stiftungsgesetz von Dr. Dietrich Böhm „Die Entschädigung der Contergankinder“ in der gekürzten Fassung abgedruckt. Diese Fassung diente in den späteren Prozessen der Firma Grünenthal gegen den Treuhänder Schreiber allen Beteiligten als Grundlage und hatte folgenden Wortlaut (Absender, Anschrift und Betreff werden weggelassen. Die Auslassungszeichen sind im Text enthalten und stammen nicht von uns; lediglich die Unterstreichungen sind von uns):

„Sehr geehrter Herr Minister!

….

Wir teilen die Auffassung, daß eine wirksame und baldige Hilfe für die geschädigten Kinder dringend erforderlich ist, und sehen keinen anderen Weg dazu als die möglichst umgehende Realisierung der Stiftungslösung. Es wird mit Recht darauf hingewiesen, daß eine weitere Verzögerung den Kindern erhebliche Nachteile bringen würde.

Wir erklären uns deshalb über den Vertrag vom 10.4.1970 hinaus bereit, zu einer baldigen Realisierung der Stiftungslösung beizutragen.

Unter der Voraussetzung, daß das Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ alsbald in Kraft gesetzt wird und die Satzung und Richtlinien entsprechend den den Eltern übermittelten Entwürfen und den Klarstellungen bzw. Änderungen im Schreiben des Bundministers der Justiz vom 24.8.1972 vom Stiftungsrat bzw. der Bundesregierung verabschiedet werden, geben wir folgende verbindliche Erklärung ab:

I. Wir werden die spätestens am 30.6.1973 fällig werdende 2. Rate aus dem Vertrag vom 10.4.1970 (vgl. § 9 Abs. 2 des Vertrages) in Höhe von 50 Millionen DM zuzüglich 6,5 Prozent Jahreszinsen hieraus seit 10.4.1970 in Erfüllung der Verpflichtung aus dem Vertrag unmittelbar an die Stiftung zugunsten des Teils II des Gesetzes zahlen.

Zur Sicherung dieses Betrages werden wir nach Inkrafttreten des Gesetzes entsprechende Sicherheiten bzw. Forderungsabtretungen beschaffen.

II. Wir garantieren unwiderruflich, daß der in § 9 Abs. 1 des Vertrages vom 10.4.1970 genannte und auf dem Treuhandkonto eingezahlte Betrag von 50 Millionen DM nebst den hierauf bereits angefallenen und noch anfallenden Zinsen und Erträgnissen vom Tage des Inkrafttretens des Gesetzes an in spätestens 5 Jahren bei der Stiftung eingeht.

Diese Frist verlängert sich, wenn und soweit eine gerichtliche Auseinandersetzung wegen des in § 9 Abs. 1 des Vertrages genannten Betrages aus Gründen, die von der Firma Chemie Grünenthal nicht zu vertreten sind, noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist.

….

III. Wir stellen noch einmal fest, daß

wir die weiteren Kosten der Feststellung des Schweregrades der Fehlbildungen durch die medizinischen Sachverständigen übernehmen, soweit sie auch im Rahmen des Vertrages vom 10.4.1970 angefallen wären;

wir bereits früher gegenüber den Treuhändern erklärt haben, daβ die Restbeträge aus Ziffer II 3 der Auslobung vom 18.12.1970 (siehe Anlage) – ca. 2 Millionen DM – für Leistungen an solche Kinder zur Verfügung stehen, deren Eltern der Stiftungslösung ausdrücklich und endgültig widersprechen.

….

Wir hoffen, sehr geehrter Herr Minister, damit einen Beitrag geleistet zu haben, der die Inkraftsetzung des Gesetzes gemäß seinem § 29 im Interesse der geschädigten Kinder und ihrer Eltern ermöglicht, und dürfen Ihrer baldigen Entscheidung entgegensehen.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Chemie Grünenthal GmbH

Dr. Franz Wirtz Michael Wirtz”

(Die sogenannte Auslobung bestand aus einer Zahlung von insgesamt 4 Millionen DM an die durch Thalidomid Nervengeschädigten.)

Es ist ganz deutlich in diesem Schreiben formuliert, daß es sich hierbei um eine über den Vergleich hinausgehende „Garantie“ handelt:

„Wir erklären uns deshalb über den Vertrag vom 10.4.1970 hinaus bereit, zu einer baldigen Realisierung der Stiftungslösung beizutragen.”

Nach den Abschnitten I. und II. garantiert Grünenthal jeweils die gleichen Summen an die Stiftung zu zahlen, zu deren Zahlung sie sich in dem Vergleich vom 10.4.1970 verpflichtet hat. Da die Vergleichsgelder zweifellos nicht zur Verfügung standen, war es eine zusätzliche Verbindlichkeit, die Grünenthal einging, da sonst ein Inkrafttreten des Gesetzes niemals hätte erfolgen können, denn § 29 des Gesetzes verlangte:

„Dieses Gesetz tritt in Kraft, sobald sichergestellt ist, daß die in § 4 Abs.1 Nr.2 genannten Mittel der Stiftung im vollem Umfang zur Verfügung gestellt werden. Der Bundesminister der Justiz gibt den Tag des Inkrafttretens im Bundesgesetzblatt bekannt.”

Und zunächst scheinbar folgerichtig hatte der Bundesjustizminister dann auch nach Abgabe dieses Schreibens am 31. Oktober 1972 das Inkrafttreten des Stiftungsgesetzes im Bundesgesetzblatt bekanntgegeben.

Grünenthals Klage auf Auszahlung der Vergleichsmillionen

Wenige Monate später wurde deutlich, daß die angebliche Garantieerklärung nur dazu diente, Grünenthal in den Genuß des § 23 zu bringen und die Geschädigten hinsichtlich ihrer Vergleichsgelder zu enteignen. Daß auch der Bundesjustizminister einen Grund zum feiern hatte, belegte schon oben Böhm.

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Denn schon am 19. Juni 1973 legte Grünenthal bei der 14. Zivilkammer des Landgerichts Köln gegen den Elterntreuhänder Dr. Dr. Rupert Schreiber Klage ein, um ihr zuvor abgegebenes Garantieversprechen, der Stiftung die zu ihrem Inkrafttreten erforderlichen 100 Millionen DM plus Zinsen zu zahlen, mit den Vergleichsgeldern der Betroffenen einzulösen. Mit Unterstützung von Bundesjustizminister Jahn erzwang Grünenthal nach 6 langen Prozeßjahren im Jahre 1979 ein Urteil vor dem Bundesgerichtshof, nachdem die Geschädigten ihre Vergleichsgelder wegen angeblich ungerechtfertigter Bereicherung an die Stiftung herausgeben mußten.

Auf das ganze verabfolgte Prozeßgeschehen dieser Zeit einzugehen und das schwere Unrecht, was den Contergangeschädigten darin immer wieder widerfahren ist, hier darzustellen, die Zusammenhänge aufzuzeigen und sich der juristischen Argumentation zu widmen (falls man bei der Grünenthals und den richterlichen Entscheidungsgründen überhaupt von einer solchen sprechen kann), die unverhohlene Dreistigkeit und Häme der Grünenthalanwälte in ihren Schriftsätzen und mündlichen Vorträgen zu schildern, das Antlitz einer Justiz zu skizzieren, die immer wieder Grünenthal begünstigte, bedarf eines ebenso langen Schriftsatzes wie diesen hier und wird an anderer Stelle nachgeholt. Allein schon wegen des unbeschreiblichen Engagements des Herrn Dr. Dr. Rupert Schreiber, der sich in dieser Zeit über jegliches Maß hinaus unter größten persönlichen und finanziellen Belastungen gegen ein einzigartiges Räderwerk von wirtschaftlicher Macht und politischer Korruption für unsere Rechte einsetzte, der sich sein Leben lang einer Sache widmete, mit der er im Grunde als Unbeteiligter nichts zu tun hatte, weil es ihm der Anstand verbot, unser Schicksal Personenkreisen zu überlassen, die es aus Opportunismus den kriminellen Interessen eines Pharmaunternehmens und eines korrupten Ministers in die Hände legen wollten, und der gerade wegen der vielen seine Person betreffenden Verleumdungen endlich in den Augen der Betroffenen rehabilitiert werden muß und auch ohne Schwierigkeiten rehabilitiert werden kann, wenn man nur seine Schriftsätze in diesen Verfahren liest und sie als unbefangener Laie mit denen der Gegenseite vergleicht, wenn man sich vergegenwärtigt, was er in den Prozessen zwischen 1973 und 1979 stets forderte, nämlich, daß Grünenthal zweimal 100 Millionen DM plus Zinsen, und zwar einmal an die Stiftung und einmal an die Betroffenen, zu zahlen hat und daß der Vorstand der Stiftung und des Bundesverbandes alles daran setzten, daß diese Forderung nicht Wirklichkeit wurde, all` das verdient eine ausführliche Dokumentation, in der die Wahrheit unter Namensnennung aller Beteiligten aufgedeckt und offengelegt wird. Hier sollen nur die beschämenden Ergebnisse der richterlichen Entscheidungsfindung kurz skizziert werden:

Schon bevor Grünenthal die oben erwähnte Klage am 19. Juni 1973 bei der 14. Zivilkammer des Landgerichts Köln einreichte, beantragte sie, um den Treuhänder Schreiber damit die Führung des Prozesses unmöglich und ihn mundtot zu machen, zunächst beim Landgericht Köln eine einstweilige Verfügung, der auch bei demselben Landgericht Köln am 5.1.1973 teilweise und dann beim Oberlandesgericht Köln am 8.1.1974 in vollem Umfang mit letztlich folgendem Wortlaut stattgegeben wurden:

„Dem Antragsgegner wird

bei Vermeidung einer Geld- oder Haftstrafe in höchstzulässiger Weise für jeden Fall der Zuwiderhandlung untersagt, zu behaupten, die Antragstellerin, die die Contergan-Katastrophe verschuldet habe, habe wieder ihr wahres Gesicht gezeigt; sie habe eine Verleumdungskampagne gegen den Antragsgegner entfesselt und durch Manipulation der Presse und Irreführung der Eltern versucht, sich weitere Vorteile zu verschaffen; dazu gehöre auch die Enteignung der Kinder zugunsten der Antragstellerin.”

LG Köln 14.0.262/73
Am 19. Juni 1973 Grünenthal reichte bei der 14. Zivilkammer des Landgerichts Köln eine Klage ein, mit der sie die 1. Rate der gezahlten Vergleichsgelder (50 Millionen DM) wieder zurückhaben wollte. Grünenthal trug vor, sie habe sich durch die sogenannte Garantieerklärung gegenüber der zu errichtenden Stiftung zu der derselben Summe des Vergleiches verpflichtet. Obwohl sich ein Kläger sonst nur vor Gericht lächerlich machen würde, wenn er der Erfüllung eines Vertrages mit dem Argument verweigern wollte, er habe einen weiteren Vertrag abgeschlossen, hatte diese Klage Erfolg. Die Begründung des Gerichts: Neben dem zwischen den Parteien abgeschlossenen schriftlichen Vergleichsvertrag über 100 Millionen DM, gäbe es einen „ungeschriebenen” Vertrag (über den Parteien nicht verhandelten, den sie nicht vereinbarten, an den sie nicht einmal dachten) des Inhalts, daß die Firma Grünenthal das wieder zurückfordern könne, was sie in Erfüllung des abgeschlossenen Vertrags gezahlt habe.

OLG Köln 9 U 78/74
Auf die Berufung hin entschied das Oberlandesgericht Köln, ohne Beweise zu erheben oder den Sachverhalt auch nur aufzuklären, die Geschädigten seien mit den 50 Millionen auf ihren Schaden von 10 Milliarden auch noch ungerechtfertigt bereichert und müßten an Grünenthal die 50 Millionen mit Zinsen wieder herausgeben.

1 BvL 19/75 BVerfG
Nicht übergangen werden soll das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, dem die Sache wegen Verfahrensfragen von dem Oberlandesgericht vorgelegt worden war. Das Bundesverfassungsgericht machte zwar ein paar kritische Bemerkungen, überließ die Sache aber den Instanzgerichten und damit dem Unrecht seinen Lauf.

BGH VII ZR 33/77
Die Revision nahm der Bundesgerichtshof schon gar nicht an. Er hatte in einem anderen Fall bereits entschieden, mit wiederum einer anderen Begründung, die schon deshalb unverständlich ist, weil sie auf die niedrigste Stufe einer Argumentation, einer in sich widersprüchlichen Argumentation abgesunken war.

RANDBEMERKUNG

Auf der englischen und auf der deutschen Internetseite der Firma Grünenthal verbreitete die Familie Wirtz dagegen, die Firma Grünenthal hätte die 100 Millionen DM des Vergleichs in die Stiftung eingezahlt.

Dabei wurde bewusst verschwiegen, dass sie den Elterntreuhänder 6 Jahre lang verklagt hat, um an unsere Vergleichsgelder zu kommen.

Und an unsere Vergleichsgelder wollten sie heran kommen, um das Stiftungsgesetz und damit die Enteignungsbestimmung in Kraft zu setzen.

Als besonders perfide empfinden wir es, dass sich die Familie Wirtz gegenüber uns Conterganopfern zudem auch noch als Wohltäter feierte, wenn die Stiftung auf derselben Internetseite unter der Rubrik soziales Engagement der Firma Grünenthal aufgeführt wurde.

Schlussbemerkung

Bis heute wurden ca. 400 Millionen EUR an Rentenleistungen durch die Stiftung gezahlt. Die Unternehmensgruppe der Familie Wirtz zahlte neben den aus dem Vergleich aus dem Jahre 1970 gezahlten ca. 51 Millionen EUR im Jahr 2008 nur noch 50 Millionen EUR, nach dem der Conterganspielfilm „Nur eine einzige Tablette“ in der Bundesrepublik für öffentliche Entrüstung gesorgt hat. Weiterer offizielle Zahlungen leistete die Unternehmensgruppe der Familie Wirtz bis heute nicht. Die heutigen Conterganrenten werden nur aus Bundesmitteln und damit letzten Endes Steuergeldern bestritten.