Am Montag, den 27. November 2006, jährt sich der 45. Jahrestag der Rücknahme von Contergan und anderer thalidomidhaltiger Präparate aus den Handel.

In Ihrer Pressemitteilung zu der Auseinandersetzung um den Conterganfilm „Nur eine Tablette” vom 15.03.2006 behauptet die Conterganherstellerfirma Grünenthal GmbH, sie habe „das Medikament bereits zwölf Tage nach dem ersten Verdachtsmoment aus eigenem Entschluss vom Markt genommen”.

In Ihrer Pressemitteilung vom 28.07.2006 zu derselben Thematik teilt sie mit, sie setze sich für eine „historisch einwandfreie Aufarbeitung der Contergan-Tragödie” ein.

Da wir ebenfalls an einer historisch einwandfreien Aufarbeitung des Contergan-Skandals interessiert sind, möchten wir das obige Datum zum Anlaß nehmen, Ihnen die folgenden Zitatauszüge aus der Anklageschrift der damals für den Conterganstrafprozeß ermittelnden Oberstaatsanwaltschaft des Landgerichts Aachen (Aktz. 4 Js 987/61) vom 10. März 1967 mitzuteilen:

„Auβer Mitteilungen über Nebenwirkungen anderer Art gingen der Chemie Grünenthal vom Jahre 1959 an in ständig zunehmenden Maβe Meldungen über Nervenschäden in Form von Polyneuritiden und Paraesthesien zu. Sie waren nach meist langfristiger Contergan-Medikamentation – die allerdings von dem Unternehmen selbst empfohlen worden war – beobachtet worden. Das Herstellerwerk verstand es, das Bekanntwerden dieser Nebenwirkungen in der Öffentlichkeit zu unterdrücken und auf solche Weise den Umsatz zu steigern. Nachdem trotz dieser Bemühungen im Laufe des Jahres 1961 die schädliche Wirkung des Thalidomid einem gröβeren Kreis der Ärzteschaft bekannt geworden war, bagatellisierte die Chemie Grünenthal diese Wirkungen, so daβ der allgemeine Umfang der Schäden dennoch weithin unbekannt blieb. Obwohl Contergan wegen des Umfangs der Nervenschäden, darüberhinaus aber auch wegen einer Vielzahl von Meldungen über andere Gesundheitsstörungen, die ebenfalls von Ärzten mit Thalidomid in Zusammenhag gebracht wurden, spätestens ab März 1961 schlechthin nicht mehr als zuverlässig anzusehen war, deklarierte das Stolberger Unternehmen das Präparat nach wie vor auch als geeignet zur Einnahme bei Schwangerschaftsbeschwerden. Tatsächlich jedoch besaβ Contergan starke fruchtschädigende Eigenschaften. Tausende Kinder, deren Mütter während der Frühschwangerschaft das Präparat eingenommen hatten, kamen deswegen mit schwersten Miβbildungen zur Welt. Viele, nämlich die wegen ihrer Miβbildungen lebensunfähigen Kinder, sind zwischenzeitlich verstorben. Die durch Thalidomid verursachten Schäden hätten gröβtenteils vermieden werden können, wenn die Angeschuldigten die durch Prüfungen nicht gedeckte Propagierung unterlassen, wenn sie die aus der späteren Unzuverlässigkeit des Präparates sich ergebenden notwendigen Konsequenzen gezogen und schlieβlich die auch insoweit warnenden Stimmen von dritter Seite beachtet hätten.
…..
Ab Frühjahr/Sommer 1961 betrieben alle Angeschuldigten den Verkauf des Thalidomid sogar mit dem Bewuβtsein, daβ es dadurch zu weiteren Schädigungen des Nervensystems bei weiteren Verbrauchern kommen werde. Aus Prestige-Gründen und um die Firma vor gröβeren finanziellen Rückschlägen zu bewahren, die jede einschneidende Maβnahme hinsichtlich ihres wirtschaftlich erfolgreichsten Präparates gehabt hätte, lieβen sie es dabei bewenden, aufgrund verschiedener Bemühungen Klarheit darüber zu gewinnen, wieso Contergan Schäden hervorrufe. Indem sie sich mit der Hoffnung begnügten, nach – zeitlich nicht absehbarer – Klärung unvertretbare Nebenwirkungen ausschalten zu können, fanden sie sich damit ab, die unerwünschten Schädigungen und Gefahren bis dahin nicht vermeiden zu können.

Weder die Warnungen anerkannter Wissenschaftler und Chefs bedeutender Kliniken wegen der von diesen diagnostizierten Nebenwirkungen noch die bei der Chemie Grünenthal immer offenkundiger gewordene Tatsache der Unüberschaubarkeit der mit der Einnahme von Contergan verbundenen Gefahren noch der im November 1961 in Stolberg bekanntgewordene begründete Verdacht eines deutschen und eines australischen Oberarztes, die – unabhängig voneinander – Thalidomid mit schweren Miβbildungen Neugeborener in Zusammenhang brachten, bewogen die Angeschuldigten zu einer Rücknahme der Substanz aus dem Handel. Hierzu sahen sie sich erst veranlaβt, nachdem durch einen Zeitungsartikel vom 25. November 1961 einer breiteren Öffentlichkeit die schwerwiegenden Beschuldigungen bekannt geworden und dadurch nicht mehr zu verheimlichen waren.” (Auszüge aus der „Zusammenfassenden Darstellung“ des Sachverhalts; Seiten 10 – 12 der Anklageschrift; Weglassungen durch uns)

Und noch ein kurzer Blick auf die Ereignisse vor dem 27. November 1961:

„Die sich über den ganzen Tag hinziehenden Verhandlungen wurden mit auβerordentlicher Verbissenheit geführt. Sie zeichneten sich insbesondere dadurch aus, daβ seitens des Innenministeriums mit Nachdruck die Rücknahme von Contergan aus dem Handel gefordert wurde, daβ die Chemie Grünenthal ein derartiges Vorgehen ablehnte und – für den Fall eines Verbotes – mit Schadensersatzansprüchen drohte. Mehrmalige telefonische Rückfragen Dr. von Veltheims und Dr. Dr. Schrader-Beielsteins in Stolberg (mit Wirtz, Dr. Mückter, Chauvistré und einem beauftregten Rechtsanwalt) ergaben lediglich die Bereitschaft des Unternehmens, Contergan-Packungen ab sofort mit einem besonderen Klebezettel zu versehen: ‚An Schwangere nicht zu verabreichen.’ Obwohl Ministerialdirigent Dr. Studt darauf hinwies, eine derartige Warnung reiche nicht aus, zeigte sich die Chemie Grünenthal zu keinem weiteren Entgegenkommen bereit. Dr. Dr. von Schrader-Beielstein und Dr. von Veltheim erklärten abschlieβend, ‚der Verkauf nach dem Wochenende’ werde praktisch nur mit geänderter Packung erfolgen.” (Ausschnitt aus den Seiten 414 – 415 der Anklageschrift; Dr. med. Heinrich Mückter = wissenschaftlicher Direktor, Jacob Chauvistré = Geschäftsführer, Dr. rer. nat. und Dr. med. Hans Werner von Schrader-Beielstein = Prokurist, Dr. von Veltheim = Rechtsanwalt; alle von Grünenthal)

Am 26. November 1961 erschien in der Welt am Sonntag ein Artikel unter dem Titel „Miβgeburten durch Tabletten? – Alarmierender Verdacht eines Arztes gegen ein weitverbreitetes Medikament” (verfasst am 25. November 1961).

Erst nach Veröffentlichung dieses Artikels erklärte Grünenthal sich dazu bereit, Contergan am 27. November 1961 aus dem Handel zu ziehen. Zu der Zurücknahme der anderen thalidomidhaltigen Präparate bedurfte es noch „einer entsprechenden Aufforderung durch das Innenministerium NRW”.

Dennoch schrieb Grünenthal am 27. November 1961 an die „Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft“:

„Wir haben uns ‚entschlossen, das Präparat Contergan sofort aus dem Handel zu ziehen, weil durch die Pressemitteilungen die Basis der wissenschaftlichen Diskussion verlassen wurde. …’” (Seite 417 der Anklageschrift)

Für Rückfragen und Interviews stehen wir Ihnen gerne ab Sonntag, den 26. November 2006, ab 15 Uhr unter der Rufnummer 0221 / 9505100 zur Verfügung.

Zudem möchten wir ankündigen, dass wir im Laufe der Woche noch eine sehr ausführliche Pressemitteilung u.a. zu der Rolle von Herrn Schulte-Hillen in der Auseinandersetzung um den Conterganfilm „Nur eine Tablette” veröffentlichen werden.