Sehr geehrte Damen und Herren,

wir werden zusammen mit dem Interessenverband Contergangeschädigter Nordrhein-Westfalen e.V. und dem Interessenverband Contergangeschädigter und deren Angehörige – Contergangeschädigten Hilfswerk – Bezirk Köln e.V. in der Nacht vom 30.9. auf dem 1.10.1997 vor den Fabriktoren der Firma Chemie Grünenthal, Zweifaller Straße, in Stolberg bei Aachen eine Mahnwache mit internationaler Beteiligung abhalten. Die genehmigte Veranstaltung wird am 30.9. um 20 Uhr beginnen und endet am 1.10.1997 um 12 Uhr. Die Mahnwache wird von den United International Thalidomides (UNITH) solidarisch unterstützt.

Die Firma Grünenthal brachte vor 40 Jahren, am 1. Oktober 1957, Contergan und andere thalidomidhaltige Präparate in den Handel, ohne sie ordnungsgemäß geprüft zu haben und ohne die Einnahme während der Schwangerschaft auszuschließen. Die Firma Grünenthal verkaufte diese Präparate selbst dann noch weiter, als tausende Meldungen aus aller Welt bei ihr eingingen, die über schwerste Gesundheitsschäden – verursacht durch deren Einnahme – berichteten. Hierdurch verursachte sie vorgeburtliche Fehlbildungen bei weltweit etwa 8000 – 12000 Kindern, die so schwer waren, daß ein Großteil von ihnen ihre Körper-und Gesundheitsschäden nicht überlebten. Gleichzeitig erlitten tausende Verbraucher irreparable Nervenschäden. Trotz alledem weigerte sich Grünenthal stets, diese Präparate aus den Handel zu ziehen. Dazu war sie erst bereit, nach dem die Öffentlichkeit durch einen Zeitungsartikel im November 1961 über diese Vorgänge unterrichtet wurde. Zur Zeit wird der Wirkstoff Thalidomid in 47 Ländern der Erde vertrieben. In Brasilien wird er insbesondere zur Dämpfung von Nebenwirkungen bei der Leprabehandlung eingesetzt – mit der Folge, daß seit den 70er Jahren zahlreiche geschädigte Kinder lebend oder tot geboren wurden und werden. Nach einer Nachrichtenmeldung vom 23.9.1997 um 12 Uhr im WDR 2 ist der Wirkstoff Thalidomid in den USA wieder auf dem Markt erhältlich. In verschiedenen europäischen Staaten wird er als „Wundermittel“ z.B. bei Folgeerkrankungen von AIDS, bei Krebs und Multiples Sklerose erprobt.

1. Wie bei der ersten Mahnwache vor zehn Jahren möchten wir in stiller Trauer den damals und heute vielen tausend durch Thalidomid Umgekommenen gedenken und deshalb um 0 Uhr einen Kranz und ein Blütenmeer aus weißen Nelken vor den Werkstoren niederlegen, wobei jede einzelne Nelke für je einen oder mehrere Verstorbenen steht.

2. Wir wollen auf die Problematik des gegenwärtigen Einsatzes von Thalidomid und seine Folgen aufmerksam machen. Auch wenn Thalidomid in Einzelfällen angeblich anschlägt und den betroffenen Patienten Linderung verschafft, haben wir den Verdacht, daß es gegenwärtig mehr darum geht, eine allgemeine Akzeptanz für die offizielle Wiedereinführung von dem angeblichen “Wundermittel” Thalidomid zu schaffen. Das Wunderbare an diesem „Wundermittel“ ist nämlich sein niedriger Herstellungspreis.

3. Nach wie vor bestehen wir auf unser Recht, von Grünenthal gerecht entschädigt zu werden. Auch wenn die deutsche Justiz in ihren demütigenden Conterganurteilen uns dieses Recht stets absprach, bleibt dieses Recht bestehen. Das Beispiel Brentspar hat gezeigt, daß das öffentliche Gewissen besser ist als das der Justiz. Dabei appellieren wir nicht an das moralische und ethische Gewissen der Grünenthaleigentümer. Ihr Verhalten uns gegenüber war bisher gewissenlos. Es wird sich auch in Zukunft nicht ändern.

Mit dieser Mahnwache fordern wir:

– Die Firma Chemie Grünenthal führt eine weltweite Informationskampagne mit dem Ziel durch, in den Entwicklungsländern über die Gefahren bei der Einnahme von Thalidomid aufzuklären und dem Mißbrauch vorzubeugen.

– Die generelle Wiedereinführung von Thalidomid in den Handel muß solange verhindern werden, bis der Nachweis einer positiven Wirkung bei bestimmten Indikationen erbracht wurde und eine Nutzen-Risiko-Abwägung im Vergleich mit anderen, insbesondere auch teureren Medikamenten einen eindeutigen Vorteil für Thalidomid ergibt. Bei einer erneuten Markteinführung von Thalidomid sind die dabei erzielten Gewinne von der jeweiligen Vertriebsfirma in dem Vertriebsland als Entschädigungsleistungen an die Thalidomidopfer abzuführen.

– Die Abgabe bzw. Einnahme in Einzelfällen erfolgt ähnlich wie bei den Methadon-Programmen nur unter ärztlicher Aufsicht.

– Die Firma Chemie Grünenthal bekennt sich zu ihrer Verantwortung und kommt für sämtliche Gesundheits- und Folgeschäden der Geschädigten in den Ländern auf, in denen sie Thalidomid selbst eingeführt, vertrieben, die Einführung mitinitiiert oder dessen Marktentnahme verhindert oder verzögert hat.