Sehr geehrte Damen und Herren,

vor 30 Jahren, am 27. Mai 1968, begann die Hauptverhandlung im Conterganstrafprozeß.

Dieses Datum möchten wir gerne zum Anlaß nehmen, am Beispiel des Conterganherstellerfirma Grünenthal GmbH/Rhld. einmal mehr zu dokumentieren, mit welcher krimineller Energie und unverhohlen dreist ein pharmazeutisches Schädigerunternehmen hierzulande gegen die Interessenlage seiner Opfer vorgehen kann, um eine straf- und zivilrechtliche Verfolgung zu vereiteln:

Die Firma Grünenthal GmbH brachte am 1. Oktober 1957 das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan mit den Wirkstoff Thalidomid in den Handel. Grünenthal verkaufte Contergan, ohne es ordnungsgemäß geprüft zu haben, und behauptete, es sei vollkommen ungefährlich, ohne dabei die Einnahme während der Schwangerschaft auszuschließen. Grünenthal hatte Contergan weiter verkauft, als tausende Meldungen bei ihr eingingen, die über Gesundheitsschäden durch dessen Einnahme berichteten. Sie verkaufte Contergan selbst dann noch weiter, als ihr gleichzeitig von einem deutschen und einem australischen Arzt berichtet wurde, daß Contergan – eingenommen von Frauen in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft – schwerste Mißbildungen bei ungeborenen Kindern verursachen würde. Einer Beantragung der Rezeptpflicht für Contergan hat sie sich ebenso stets widersetzt wie der von vielen Experten geforderten Rücknahme aus dem Handel. Anstattdessen versuchte sie warnende Ärzte einzuschüchtern oder durch Einflußnahme auf die Redaktionen von wissenschaftlichen Zeitschriften Veröffentlichungen zu verhindern, die über fundierte Ergebnisse von Untersuchungen über die Schädlichkeit des Contergan berichteten. Hierdurch hat sie Mißbildungen bei weltweit über 10.000 und in Deutschland ca. 7000 Kindern an Armen und Beinen, Augen und Ohren, inneren Organen und Genitalien verursacht, die so schwer waren, daß in Deutschland ca. 4000 von ihnen ihre Körper- und Gesundheitsschäden nicht überlebten. Weniger bekannt ist, daß Grünenthal hierdurch auch bei tausenden (erwachsenen!) Verbrauchern äußerst schmerzhafte und irreparable Nervenschäden (Thalidomidpolyneuritis) verursachte, die nach längerem Contergan-Gebrauch – der allerdings von Grünenthal selbst empfohlen wurde – auftraten. Erst nach dem die Öffentlichkeit durch einen Zeitungsartikel in der „Welt am Sonntag“ vom 26. November 1961 unterrichtet wurde, zog Grünenthal Contergan aus dem Handel.

Am 10. März 1967 erstellte die Staatsanwaltschaft Aachen die über 900 Seiten umfassende Anklageschrift gegen Leiter und Angestellte Grünenthals. Die erste große Strafkammer des Landgerichts Aachen eröffnet am 18. Januar 1968 das Hauptverfahren. Am 27. Mai 1968 begann die Hauptverhandlung in den Casino-Betrieben der Grube Anna in Alsdorf bei Aachen. Nebenkläger waren die Eltern von etwa 220 Contergankindern.

Schon während des Strafprozesses hatte Grünenthal zugegeben, die Presse manipuliert zu haben, um der Öffentlichkeit die tatsächlichen und für sie vernichtenden Ergebnisse der Beweisaufnahme zu verheimlichen. Der ehemalige Justizminister des Landes NRW Neuberger (SPD), dessen Anwaltssozietät einen der Grünenthalverantwortlichen vertrat, wurde in seiner Eigenschaft als oberster Dienstherr der Staatsanwaltschaft während des Strafprozesses zugunsten Grünenthals tätig und nahm maßgeblich Einfluß auf das Verfahren. Am 242. Verhandlungstag des Conterganstrafprozesses muβten die Vertreter der Nebenkläger gegen den beisitzenden Richter, dem Landgerichtsdirektor Melster, einen Befangenheitsantrag stellen, weil dieser bei einem heimlichen Gespräch mit einem Verteidiger der Grünenthalverantwortlichen gesehen wurde. Als sich auch die Staatsanwaltschaft auβerstande sah, dem Ablehnungsantrag entgegenzutreten, erklärte sich der betreffende Richter selbst für befangen und schied so aus dem Verfahren aus. Das Strafverfahren gegen die Grünenthalverantwortlichen wurde am 18. Dezember 1970 wegen Geringfügigkeit und mangelndem öffentlichen Interesse eingestellt.

Am 10. April 1970 schloßen die Eltern der damaligen Contergankinder mit der Firma Chemie Grünenthal einen Vergleich. Sie verzichteten darin auf Schadensersatzansprüche in Milliardenhöhe gegen einen Entschädigungsbetrag von 100 Millionen DM plus Zinsen. Mit Unterstützung des ehemaligen Bundesjustizministers Gerhard Jahn (SPD) enteignete Grünenthal die Betroffenen hinsichtlich dieser Gelder und rief damit am 31. Oktober 1972 ein Stiftungsgesetz ins Leben, das heute eine nach Schadensgrad bemessene, monatliche Höchstrente von lediglich 1024,- DM durch eine Stiftung an die Betroffenen ausschütten läßt. Von dem Sozius der Kanzlei des Justizministers Neuberger wurde die Verankerung einer gesetzlichen Regelung durchgesetzt, die eine Geltendmachung von Regreßansprüchen seitens der Geschädigten wegen der bei ihnen in den letzten Jahren aufgetretenen, erheblichen Nachfolgeschäden gegenüber Grünenthal für immer unmöglich macht. Auch sorgte Grünenthal dafür, daß ihr früherer Firmensyndikus Herbert Wartensleben einen Posten in der Stiftung erhielt. Wartensleben läßt sich seitdem perfiderweise immer wieder als Wohltäter der Betroffenen feiern.